Indien als Lehrstück

Britta Ohm: Indien als Lehrstück. Vom Ende der Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie, in: BdWi Studienheft 14: Umkämpfte Wissenschaftsfreiheit. Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Oktober 2024, 56 S.

Indien wird von westlichen Regierungen zunehmend als ein zukunftsweisendes, vor allem wirtschaftlich und technologisch wichtiges Partnerland dargestellt, auch unter Verweis auf seinen Status als „größte Demokratie der Welt“. In ihrer Wertschätzung Indiens unterscheiden sich proto-autokratische und etabliert-liberale Regierungen in Europa kaum. Britta Ohm schildert in diesem leider nicht online zugänglichen Text dagegen, wie die hindu-nationalistische Führung unter Narendra Modi seit ihrem Amtsantritt 2014 Universitäten und Hochschul-Campi immer stärker politisch drangsaliert und schließlich offen attackiert hat – besonders dort, wo sich Studierende und Lehrende mit Protesten der muslimischen Minderheit und niederkastigem Engagement solidarisiert haben. Die schrittweise Aushöhlung und Delegitimierung der Universitäten als Orten kritischen Verstehens und intellektueller Auseinandersetzung in Indien kann als eine Vorwegnahme heutiger Tendenzen in den USA und in Europa verstanden werden. Die ersten Verhaftungen von Studierenden an der Jawaharlal Nehru University (NJU) in Neu-Delhi 2016 geschah unter dem nie revidierten kolonialen „Gesetz gegen Aufwiegelung“ von 1870. Später stellte sich heraus, dass die ihnen zugerechneten Slogans von eingeschleusten Provokateuren skandiert worden waren. 

„In vielerlei Hinsicht war damit die Universität als offenes ideologisches und auch physisches Schlachtfeld eröffnet, auf dem der Einsatz der Mittel durch die Hindu-nationalistische Regierung, rechts-extreme Netzwerke, private Medienkonzerne und social media Plattformen und zunehmend staatliche Organe (Polizei, Justiz) bestimmt und gegen die kritische Studierendenschaft sowie entsprechende Wissenschaftler:innen und Hochschullehrer:innen in Anschlag gebracht wurde.“

Nach der Einführung der minderheitenfeindlichen Staatsbürgerschaftsgesetze eskalierte die Gewalt an der Jamia Millia Islamia (Nationale Islamische Universität) im Dezember 2019 in Delhi. Die Proteste griffen auf andere Landesteile und auf die nicht-universitäre Bevölkerung über. Die Bewegung wurde zu „groß, als dass die Polizei sie hätte zerschlagen können. Die Regierung griff stattdessen zu einem seit der Kolonialzeit probaten und im Zuge der jahrzehntelangen Hindu-nationalistischen Mobilisierung intensivierten Mittel, nämlich der Anzettelung eines ‚riot‘, einer pogromartigen Ausschreitung, in einem entfernten Stadtteil Delhis, für das die Angegriffenen verantwortlich gemacht wurden.“ 

Bis heute sitzen überwiegend muslimische Studierende und Doktoranden ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis.

„Wer sich (Hindutva)kritisch mit Fragen zu Kasten-, Minderheiten- und Genderpolitik oder mit Problematiken von Zugehörigkeit, Bürger- und Menschenrechten befassen will, tut das auf eigene Gefahr. (…) Indien zeigt, wie weit ideologisch motivierte Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit und die Unterminierung von Universitäten als Orte verbriefter intellektueller Auseinandersetzung gehen können, ohne die Demokratie als offiziellen und entsprechend global vermarktbaren Rahmen abzuschaffen. Gleichzeitig haben aber gerade diese Angriffe zweifellos dazu beigetragen, dass die Modi-Regierung bei den Wahlen 2024 ihre absolute Mehrheit verloren hat.“

Der Artikel endet damit, dass wir von Indien lernen können, uns „nicht einfach auf die ängstliche Verteidigung der liberal-säkularen Demokratie“ zurückzuziehen, sondern unter Einberechnung der uns zu erwartenden Rückschläge Demokratie neu zu denken und „Wissenschaft und das Wissen der Bevölkerung in neue Beziehungen“ zu setzen. 

https://www.bdwi.de/show/11222980.html