A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur, Berlin (Matthes & Seitz) 2023, 160 S.
„Nach dem Genozid“ – es ist schwer, in diesen Tagen den Titel der 2023 auf deutsch erschienenen, stark gekürzten Fassung von Dirk Moses’ epochalem 600-Seiten-Werk „Problems of Genocide“ nicht auf Gaza zu beziehen, wo es bald kein palästinensisches Leben mehr geben dürfte. Aber gerade in Bezug auf Gaza hat auch die andere, eigentliche Bedeutung des Titels einen Sinn: dass der Genozidvorwurf selbst nicht taugt, um diese Verbrechen zu verhindern, und die Verbrechen eher verschleiert als klärt. Während sich die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass es sich beim Vorgehen Israels in Gaza tatsächlich um einen Genozid handelt, ist es für Zehntausende von getöteten Menschen schon zu spät, und man ahnt, dass die Fixierung auf das Genozid-Paradigma selbst dazu beigetragen haben könnte. Die Institutionen des Völkerrechts kollabieren, und im Moment dieses Niedergangs werden ihre Geburtsfehler sichtbar.
In Moses’ deutschem Buch ist, anders als in der englischen Vollversion, von Palästina fast nicht die Rede. Die zeitgenössischen Fallbeispiele sind vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine, aber auch Sudan, Syrien, Myanmar, China. Es wurde vor dem 7. Oktober fertig gestellt und nimmt wohl auch Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten. Seine große These ist aber auch ohne expliziten Bezug auf Palästina mit der Staatsräson-getriebenen deutschen Erinnerungskultur inkompatibel. Sehr kurz zusammengefasst die These: Laut Genozid-Konvention 1948 sollten Verbrechen wie der Holocaust in Zukunft verhindert werden. Doch ihre Unterscheidung zwischen militärischen und genozidalen Intentionen (die ersteren zielen auf Niederschlagung, die letzteren auf Vernichtung) ermöglichten es genozidaler Kriegsführung, also Kriegen mit Vernichtungsabsicht, sich der engen Definition der Genozid-Konvention zu entziehen.
Moses sagt, dass genozidale wie auch andere Formen der Massengewalt gegen Zivilist:innen von einer Pseudo-Rationalität getrieben werden, nämlich dem Streben nach einer „permanenten Sicherung“ durch Verhinderung antizipierter Angriffe. Das äußert sich in den Begrifflichkeiten der „Sicherheit“, der „Vorbeugung“, der „Endlösung“ etc. Die Pseudo-Rationalität der dauerhaften Sicherung rechtfertigt auch Massentötungen und Belagerungen von Zivilist:innen in nicht oder noch nicht genozidalen Kriegen, die Widerstand und Bedrohung nicht antizipieren, sondern darauf reagieren: mit Flächenbombardierungen und Drohnenangriffen, mit dem Einsatz der Atombombe, mit Aushungern und langsamem Sterbenlassen, mit Kolonialverbrechen aller Art. In der Praxis gehen militärische und genozidale Logiken und Intentionen Hand in Hand und sind miteinander verflochten.
Dass in Konflikten, wo es letztlich um Widerstandsbekämpfung geht, aus jedem Kind ein Terrorist werden und jeder unschuldige Mensch ein „human shield“ sein kann, macht grässliche Verbrechen möglich, die dann für die Zuschauer quasi unmerklich ethnisch und rassistisch aufgeladen in Genozide übergleiten können. Die Betroffenen wissen natürlich von Anfang an, welch verbrecherischer Dynamik sie ausgesetzt sind. Aber die Täter, die Bystander, die Komplizen können sich die Verbrechen schönreden, mit Verweis auf Verteidigung und dauerhafte Sicherung. „Nie wieder Hamas“ resultiert unter der Maßgabe der permanenten Sicherung zwangsläufig in der Zerstörung Gazas, in der Massentötung von palästinensischen Zivilist:innen und in ethnischer Säuberung, unter dem „humanitären“ Vorwand, das sei auch im Interesse der Bevölkerung.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft – in Medien, Politik, und auch in Fachkreisen – hat bis heute Dirk Moses nicht verziehen, dass er den „Katechismus“ ihrer staatlich sanktionierten Erinnerungskultur durch schlichte Beschreibung seiner Bestandteile bloßgelegt hat. Moses hatte mit seiner Intervention lediglich vorgeschlagen, die völkischen Vorannahmen der Erinnerungskultur loszuwerden und sie so weiterzuentwickeln, dass sie inklusiv für Opfererinnerungen wird, die von der Singularitätsthese mit ihrer Fixierung auf Ideologie verdeckt werden.
Der „Historikerstreit 2.0“, oder wie immer man ihn nennen soll, zeichnet sich in Deutschland nun leider unter anderem auch dadurch aus, dass Dirk Moses bis heute regelmäßig diffamiert und in die Nähe von Holocaustverharmlosern und ‑relativierern gerückt wird. Eine Diskursanalyse der Selbstwidersprüche und empirischen Falschheiten, mit denen in deutschen Medien sein Ruf zerstört wurde, steht aus. „Moses und andere wollen weder in der Shoah noch im NS-Antisemitismus spezielle Qualitäten erkennen, die den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden von kolonialen Genoziden fundamental unterscheidet“, muss man jetzt gerade wieder in der Mai-Ausgabe der „Sehepunkte“ lesen, und keine deutschen Fachkolleg:innen nehmen Moses gegen diese abstruse Verleumdung in Schutz. Natürlich weiß Moses um die „speziellen Qualitäten“ des Holocaust und um die Unterschiede zu den kolonialen Genoziden. Aber er analysiert sie eben im historischen Zusammenhang, mit der besonderen Temporalität, die der Holocaust hatte:
„Sie planten die Eliminierung feindlicher Gruppen im Voraus. Anders als ‚klassische‘ imperiale Gewalt war ein Großteil ihrer Gewalt dementsprechend vorsätzlich geplant. Sie versuchten, der Geschichte eine Richtung vorzugeben. So gesehen markieren das nationalsozialistische Reich und dessen berüchtigte Vernichtungspolitik den Kulminationspunkt jahrhundertelanger Imperienbildung sowie denjenigen der Vernichtung von in- wie ausländischen Feind*innen, seien sie real oder eingebildet. Dieses imperiale Projekt stand unter dem Zeichen eines ‚Erlösungsimperialismus‘, weil es, wie Hitler sagte, zur historischen ‚Lösung der deutschen Frage‘ führen würde, für die ‚es nur den Weg der Gewalt geben‘ könne. Der ‚Erlösungsantisemitismus‘ der Nationalsozialist*innen war ein integraler Bestandteil dieses Projekts, schließlich bedeutete die Vernichtung ‚der Juden‘ für sie auch eine grundlegende Antwort auf ‚die deutsche Frage‘.“ (S. 104–105)
Die selbstwidersprüchlichen, gehässigen und verständnislosen Unterstellungen, die in Deutschland sonst noch gegen ihn vorgebracht wurden, sind teilweise an anderer Stelle widerlegt worden, aber diese Arbeit ist wohl müßig. Die deutsche Erinnerungskultur muss sich endlich davon befreien, die „Lehre aus dem Holocaust“ nationalistisch misszuverstehen. Mit Staatsräson und permanenter Sicherung ist einem neuen Massenmord an Juden, wie am 7. Oktober 2023 geschehen, nicht beizukommen. Stattdessen wird Deutschland sich immer tiefer in Verbrechen und sich vollziehende Genozide verstricken. Wie jetzt in Gaza. Darum geht es Dirk Moses.
↗ https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/nach-dem-genozid.html