Dossier zur Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA)

Peter Ullrich: Jerusalem Declaration on Antisemitism (Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2025, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367.

Ohne die Vorgeschichte der Antisemitismusdefinition der International Holocaut Remembrance Alliance (IHRA) lässt sich die JDA mit ihrer Antisemitismusdefinition nicht verstehen. Deshalb widmet sich das Dossier eigentlich beiden: ihren Hintergründen und Zielen, den tatsächlichen Inhalten der Definitionen, ihren Strukturen und konkreten Bestimmungen und ihren Beispielen und Erläuterungen, „mit dem Ziel eine Erdung der allgemeinen, überwiegend äußerst emotional geführten Diskussion zumindest denkbarer zu machen“.

Zu den Hintergründen: Beide Definitionen verdanken sich starken politischen Kontexten und Motiven im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und der Frage des „israelbezogenen Antisemitismus“. Insofern kann man auch bei der JDA nicht im engen Sinn von einer wissenschaftlichen Definition sprechen; eine Entgegensetzung IHRA = politische Definition, JDA = wissenschaftliche Definition würde zu kurz greifen. Trotzdem prägt natürlich die IHRA-Definition, dass die Fachwissenschaft an ihr nicht beteiligt wurde, während die JDA von (überwiegend jüdischen) Fachwissenschaftler:innen initiiert, formuliert und in großer Zahl unterzeichnet wurde. Die IHRA-Definition wird im Westen im politischen Raum mit staatlicher Macht durchgesetzt, die JDA ist dort nahezu bedeutungslos.  

Das Dossier beschreibt als Hauptleistung der JDA, dass sie die Phänomene, die als antisemitisch bezeichnet werden können, ausdifferenziert und eingrenzt, ganz im Sinne einer wägbaren Definition. Sie ermöglicht es, die Erscheinungsformen von israelbezogenem Antisemitismus durch Differenzierung offen und kontextbezogen zu erfassen. Nur Phänomene, die sich gegen Juden:Jüdinnen und das Judentum als solches richten, in welchem Kontext auch immer, sind per se antisemitisch. Dazu kommen Phänomene, die nicht per se antisemitisch sind, aber antisemitisch sein können, je nach Kontext. Die JDA verlangt, dass bei nicht per se antisemitischen Äußerungen und Taten die antijüdische Zielrichtung aus der Kenntnis des Kontextes nachgewiesen muss und nicht einfach behauptet werden kann. „Dieses begriffliche Hilfsmittel zur Klärung von Grauzonen im Diskurs über israelbezogenen Antisemitismus kann nicht hoch genug gewürdigt werden“, so das Dossier. Die JDA erkennt an, dass Israelbezogene Phänomene in jedem Kontext per se antisemitisch sein können, zum Beispiel die Anwendung klassischer antisemitischer Stereotype auf Israel oder die Inhaftungnahme von Jüdinnen*Juden für Handlungen des Staates Israel. Aber das Bestreiten des Existenzrechts Israels ist nicht in jedem Kontext antisemitisch. Die an der JDA beteiligten Forscher:innen haben lange um eine gemeinsame Position gerungen, bevor sie sich auf folgende Formulierung einigen konnten: antisemitisch ist, „Juden:Jüdinnen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben“.

Anders die IHRA-Definition. Sie sagt zwar ebenfalls, dass bei der Bewertung der „Gesamtkontext“ berücksichtigt werden müsse, ist dabei aber nicht auf eine Eingrenzung, sondern auf eine Ausweitung der Gruppe der als antisemitisch zu bewertenden Phänomene angelegt. Die Beispiele der IHRA-Definition umfassen auch Äußerungen, die nicht in jedem Kontext gegen Juden:Jüdinnen gerichtet sind, aber in jedem Kontext und immer als antisemitisch bewertet werden sollen, an erster Stelle die Infragestellung des Existenzrechts Israels. Auch Boykott-Bewegungen wie der BDS sind zufolge der IHRA-Definition immer als antisemitisch einzustufen, unabhängig von ihrer eigentlichen Zielrichtung, z.B. wenn sie auf Menschenrechtsverletzungen reagieren.

Der häufig geäußerten Kritik an der JDA-Definition, dass sie allzu hohe Hürden setze, um „weltbildhaften Antizionismus als antisemitisch zu klassifizieren“, hält das Dossier entgegen, dass es sich hier um graduelle Abstufungsfragen handele, die man wiederum nur differenziert beantworten könne. Und es deutet an, dass von den fatalen Folgen der IHRA-Definition ja auch an der JDA beteiligte Forscher:innen betroffen sind, nämlich diejenigen, die sich „gegen die konkrete Form der zionistischen Bewegung und Staatlichkeit“ Israels aussprechen. Auch sie werden von der IHRA-Definition dem Vorwurf eines im Zweifelsfall antisemitischen „weltbildhaften Antizionismus“ ausgesetzt. Damit wird aber eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Kontext, der diese Forscher:innen zu ihrer Haltung gebracht hat, verhindert. Hier wird die grundlegende Asymmetrie zwischen diesen beiden Definitionen besonders deutlich, mit den daraus resultierenden Problemen für ihre akademische Diskussion und ihre (Rechts)Anwendung.

↗ www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367