Kategorie: Pick

  • Faschismus – nicht Ausnahmezustand, sondern Normalität

    Alberto Toscano: Spätfaschismus. Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik, aus dem Englischen übersetzt von Jonathan Rößler, Münster (Unrast Verlag) 1925.

    Dass Alberto Toscano mit seinem jüngst auch auf Deutsch erschienen Buch einen Nerv getroffen hat, konnte man Ende Juni in der Berliner Volksbühne sehen. Dort wurde die Buchvorstellung mit prominenten Gästen (Bafta Sarbor, Lama el Khatib und Quinn Slobodian) im fast ausverkauften, großen Saal begangen. Toscano liefert keine Gegenwartsdiagnose à la „das ist jetzt Faschismus“ und lehnt eine Begriffsdefinition, etwa entlang einer Checkliste von Kernmerkmalen, strikt ab. Als orientierungssuchende Leser:in kann einen diese Haltung durchaus frustrieren. Aber man wird fürs Weiterlesen belohnt: vor allem mit einem Denkangebot, den Faschismus nicht als spektakulären Ausnahmezustand, als das radikal Andere von Freiheit und Demokratie zu verstehen, sondern als Potential und Prozess, der gerade auch innerhalb liberaler Demokratien gedeiht und darin von unterschiedlich positionierten Gruppen – entlang von Rasse, Geschlecht und Sexualität – sehr unterschiedlich erfahren wird.

    Das Buch ist in sieben Kapitel untergliedert, die zwar aufeinander aufbauen und sich aufeinander beziehen, aber je nach Interessenlage auch sehr gut einzeln gelesen werden können. Alle Kapitel haben gemeinsam, dass Toscano die ihn inspirierenden Autor:innen ausführlich zu Wort kommen lässt und sie in oft überraschender Weise aufeinander bezieht und miteinander in Verbindung setzt. Ich will hier kurz vor allem zwei Kapitel vorstellen, die ich für besonders wichtig halte: nämlich Kapitel 2: „Racial Fascism“ und Kapitel 3: „Fascist Freedom“.

    Mit Rückgriff auf antikoloniale Denker:innen und Scholars/Aktivist:innen der amerikanischen Black Radical Tradition der 1970er Jahre stellt Toscano in „Racial Fascism“ die gängige historische Einordnung des Faschismus auf den Kopf. Er argumentiert, anknüpfend an Aimé Césaire, W.E.B. DuBois und andere, dass die Brutalität kolonialer Herrschaft und Ausbeutung und die mit Gewalt unterlegten und Gewalt generierenden kapitalistischen Spaltungen der US-amerikanischen Reconstruction als frühe Faschismen zu verstehen seien. Diese hätten die späteren, heute als „historischer Faschismus“ geltenden Regime in Italien, Deutschland, Kroatien etc. der Zwischenkriegszeit vorbereitet und mitgeprägt. In einem zweiten Schritt greift Toscano die Erkenntnis auf, dass Faschismus keinesfalls mit dem „historischen Faschismus“ und seinen Kapitulationen in den 1940er Jahren zu Ende ging – zumindest nicht für diejenigen, die auch in Demokratien brutaler Entrechtung und Gewalt ausgesetzt waren und sind. Er zitiert hier unter anderem aus den Gefängnisschriften von Angela Davies und George Jackson und stellt fest:

    “Jackson and Davis are profoundly aware of the disanalogies between present forms of domination and historical fascism, but they both assert the epistemologically privileged vantage point provided by the view from within a carceral-judicial system that could fairly be described as a racial state of terror. In distinct ways, they can be seen to relay and recode that foundational gesture of anti-racist and Black radical anti-fascism crystallised in Césaire’s Discourse on Colonialism. As the Martinican poet and politician tells it: ‘And then one fine day the bourgeoisie is awakened by a terrific boomerang effect: the gestapos are busy, the prisons fill up, the torturers standing around the racks invent, refine, discuss.’” (Toscano 2023, 32)

    Faschismus und faschisierende Prozesse seien hartnäckig und dennoch oft unsichtbar für diejenigen, die das Privileg haben, nicht direkter Gewalt und Terror ausgesetzt zu sein.

    In dem Kapitel zu „Fascist Freedom“ geht es Toscano um die Klärung des Verhältnisses von Faschismus und Neoliberalismus, das anders verstanden werden müsse. Ich finde dieses Kapitel vor allem deshalb wichtig, weil Faschismus und Neoliberalismus heute als politische Kampfbegriffe eine frustrierende Unklarheit aufweisen, trotzdem ungebrochen relevant erscheinen und derzeit in Gegenwartsdiagnosen eher konkurrieren als zusammengedacht werden. Nach dem Motto: ist das jetzt (noch) Neoliberalismus oder (schon) Faschismus? Für Toscano ist das die falsche Frage. Er zeigt auf, dass die herkömmliche Vorstellung, dass der Neoliberalismus grundsätzlich staatskritisch ist, während der Faschismus jede Form von Freiheit zugunsten der Staatsmacht abschafft, weder theoretisch noch historisch zutrifft. Er zitiert aus den Schriften von Mussolini, Reinhard Höhn, Ludwig von Mises und anderen, um den Nachweis zu führen, dass der Neoliberalismus durchaus für den Staat ist, aber für eine ganz bestimmte Art von Staat, nämlich den, der die Marktkräfte freisetzt und Eigentum verteidigt. Der Faschismus wiederum ist durchaus für Freiheiten, aber nur für ganz bestimmte Freiheiten von privilegierten Gruppen. Auch im Dritten Reich wurden den Anhänger:innen und Ausführenden des Regimes erhebliche Freiheiten zugestanden. Nach Toscano ist es ein Fehler, die „spontaneities and enjoyments that fascism offers to its managers, militants or minions” (Toscano 2023, 61) zu übersehen und nicht erst zu nehmen.

    Wer bis zum Ende weiterliest, wird im kurzen Schlusskapitel dann doch mit zarten definitorischen Ansätzen belohnt. Toscano macht „four interlocking dimensions of the history and experience of fascism” (Toscano 2023, 156) aus, für die er seine Leserschaft sensibilisieren will. Diese sind in aller Kürze: 1) dass es Faschismus schon vor dem „historischen Faschismus“ gab und dass er diesen überlebt hat; 2) dass Faschismus keinesfalls von allen gleich erlebt wird; 3) dass Faschismus sich als ein Modus präventiver Gegengewalt verstehen lässt, mit der auf epochale Paniken (etwa die Panik des „Großen Austauschs“) reagiert wird; und 4) dass Faschismus von seinen Anhänger:innen und Ausführenden nicht nur Unterwerfung fordert, sondern ihnen auch bestimmte Formen von Freiheit bietet – etwa die Freiheit, Gewalt auszuüben und dies zu genießen.

    ↗ www.unrast-verlag.de/produkt/spaetfaschismus/

  • Die Rache der serbischen Regierung an Studierenden und Professor:innen

    Adriana Zaharijević und Jana Krstić: How Did a Fight Against Corruption Become a Struggle Over Education? — Chronology of Pressure, Balkan Talks, 23. Mai 2025, https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

    In Westeuropa weitgehend unbeachtet, spitzt sich der Konflikt zwischen der Regierung und den Universitäten, Studierenden, Professor:innen in Serbien immer dramatischer zu. Seit Ende letzten Jahres führt die Zivilgesellschaft in Serbien Massenproteste vor allem wegen der allgegenwärtigen Korruption und dem Kollaps der rechtsstaatlichen Institutionen auf. Wie die EU mit ihrem „Lithium-Pakt“ und dem Waffenhandel in diese Vorgänge in Serbien verwickelt ist, hat Snežana Stanković auf dieser Seite bereits in ihrem Pick am 3. Februar dargestellt. Die Proteste gingen vor allem von Studierenden aus. Fast alle öffentlichen Fakultäten des Landes haben sich im Dezember 2024 hinter die Forderungen der Studierenden gestellt, im Gefühl, dass es um den Bestand der Wissenschaften und des Bildungssystems selbst geht. Lehrkräfte haben sich landesweit organisiert und vernetzt.

    Seit März schlägt die Regierung unbarmherzig zurück: Das Bildungsministerium, „Racheministerium“ genannt, verweigert Lehrern und Universitätsprofessoren einfach den größten Teil ihres Gehalts. Die friedlichen Proteste werden von Agents provocateurs gekapert, um den Ruf der Demonstrant:innen zu beschädigen; die Regierung schürt Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Universitätsprofessor:innen sollen jetzt 35 Wochenstunden unterrichten, was Forschung unmöglich macht. Die Uniangestellten wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, viele stehen vor der Entlassung, das Akkreditierungssystem droht zusammenzubrechen. Seit dem 8. Mai plant die Regierung ein neues Gesetz zur Hochschulbildung, das die Freiheit von Forschung und Lehre voraussichtlich drastisch einschränken wird.

    Die serbischen Kolleg:innen appellieren an die internationale Gemeinschaft, die Unterdrückungsmaßnahmen in Serbien nicht zu ignorieren, sondern mit den Studierenden und Professor:innen und ihren Forderungen nach Transparenz, Verantwortlichkeit und akademischer Unabhängigkeit solidarisch zu sein.

    https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

  • Vom Bystander zum Verbündeten

    Sarah Schulman: The Fantasy and Necessity of Solidarity, New York (Penguin Random House) 2025, 320 Seiten.

    „The Fantasy and Necessity of Solidarity“ [Fantasiebild und Notwendigkeit von Solidarität] ist das neueste Buch von Sarah Schulman, einer US-amerikanischen Schriftstellerin, Pädagogin und Aktivistin, die vor allem durch ihre monumentale Oral History von ACT UP, der AIDS Coalition to Unleash Power, bekannt geworden ist. In einer Mischung aus politischen Memoiren und Ratgeber denkt es neu und differenziert darüber nach, wie Solidarität heute praktiziert werden kann, und liefert im Vorbeigehen wunderbare Definitionen, zum Beispiel: „Solidarität ist der Prozess der Anerkennung, dass andere Menschen wirklich existieren und ihre Erfahrungen wichtig sind“, oder: „Solidarität ist die Handlung hinter der Erkenntnis, dass man nicht der einzige Mensch mit Träumen ist“.

    Während der Schwerpunkt des Buches auf der Solidarität mit Palästina liegt (für die sich Schulman seit 2009 engagiert), greift die Autorin auch auf ihre breitere aktivistische, künstlerische und pädagogische Arbeit zurück und gibt viele Beispiele für gelebte Solidarität, vor allem im US-Kontext, vom geheimen Aktivismus für reproduktive Rechte bis hin zu informellen Selbsthilfegruppen, die sich innerhalb der exklusiven Räume der New Yorker Theaterszene gebildet haben. Über ihre eigenen Erfahrungen hinaus findet Schulman wertvolle Lehren in der Arbeit von Vivian Gornick, Wilmette Brown und Jean Genet, um nur einige zu nennen.

    Schulman akzeptiert die inhärente „Messiness“, die ideologische Unordentlichkeit von Solidarität, die „trotz Widersprüchen wichtig ist, sich entwickelt und Wirkung zeigen kann“. Aber am eindrucksvollsten ist ihre aus ihrer jahrzehntelangen Organisationsarbeit und vielen herben Enttäuschungen gewonnene ehrliche Anerkennung der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, in der Solidaritätsarbeit quer durch die Machthierarchien Koalititionspolitik zu betreiben: „Koalitionen sind unbequem, weil wir unsere ganz spezifischen persönlichen politischen Ziele, die keiner von uns allein erreichen kann, zugunsten eines Kompromisses für die Gemeinschaft opfern. Aber ohne diese Flexibilität wäre keine Bewegung möglich. Der Wandel, der Frieden und die Gerechtigkeit, die wir anstreben, sind wichtiger als unser Bedürfnis, in unseren Wohnzimmern Recht zu haben.“

    Hoffentlich wird das Buch ins Deutsche übersetzt.

    https://www.penguinrandomhouse.com/books/771411/the-fantasy-and-necessity-of-solidarity-by-sarah-schulman

  • Moralisches Versagen – Gaza, Wissen und Verantwortung

    Didier Fassin: Une étrange défaite. Sur le consentement à l’écrasement de Gaza, Paris (Editions La Découverte) 2024, 198 pp. Englische Übersetzung: Moral Abdication. How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza, translated by Gregory Elliott, London/New York (Verso Books) 2025, 128 pp.

    Didier Fassin sagt alles. In acht Kapiteln spricht er über die Vernichtung in Gaza, über die Zustimmung dazu und darüber, wie das Sprechen darüber unmöglich gemacht wird und Worten neue Bedeutungen zugewiesen werden: „Sprache wird beschädigt, wenn Forderungen, das Töten von Zivilisten einzustellen, als ‚antisemitisch‘ bezeichnet werden, wenn eine Armee, die ihre Feinde entmenschlicht, als ‚moralisch‘ bezeichnet wird, wenn ein Unternehmen der Auslöschung als ‚Gegenschlag‘ bezeichnet wird, wenn eine Militäroperation, die offen gegen Zivilisten geführt wird, als ‚Israel-Hamas Krieg‘ bezeichnet wird. Das Denken wird erstickt, wenn Debatten verhindert, Vorlesungen verboten und Ausstellungen abgesagt werden, wenn die Polizei in die Hochschulen eindringt und Staatsanwälte zur Sicherung der Orthodoxie eingesetzt werden.“ (S. 87; dt. Übers. der Verf.)

    Genau weil Didier Fassin alles sagt, was alle wissen können, was überall medial zugänglich ist: über die Toten, den Hunger, die Bomben, die Zerstörung, die Blockade, die Waffenlieferungen, die Geschichte der Gewalt – der unmittelbaren Gewalt des Anschlags der Hamas am 7. Oktober 2023, und der gewaltsamen langen Vorgeschichte, zurück bis zur Balfour Deklaration von 1917 –, die Rechtfertigungen, die Absichtserklärungen … lässt er einen mit einem tiefen Gefühl der Vergeblichkeit aller Worte zurück. Wir wissen das, was er hier berichtet. Und es ändert nichts. 

    Tatsächlich wird viel geredet und fast immer an dem, was in Gaza passiert, gezielt vorbei, so dass das Reden eine Art Schallmauer zwischen Gaza und unserem Wissen errichtet. „Die Sprache, um das zu beschreiben, schien irgendwie tot zu sein. Oder besser gesagt, es wurde versucht, ihren Tod herbeizuführen, indem man ihr ein Vokabular und eine Grammatik der Faktualität auferlegte, indem man das vorschrieb, was gesagt werden muss, und das verdammte, was nicht gesagt werden darf.“ (S. 5/6; dt. Übers. der Verf.) Und trotzdem liegt die Wirklichkeit auf der Hand, und jede:r weiß: dass, egal ob man es einen Genozid nennt oder nicht, in Gaza gezielt zehntausende von Menschen getötet, hunderttausende vertrieben, und wieder vertrieben, den Überlebenden schwere körperliche und seelische Schäden zugefügt und ihre Lebensbedingungen langfristig zerstört werden. 

    Was bedeutet diese Bedeutungslosigkeit der Kenntnis dessen, was vor unseren Augen geschieht? Wir sind Zeugen, ohne zu bezeugen. Didier Fassin betrachtet das moralische Versagen des Westens, seine „Einwilligung“ in die Vernichtung, die sowohl im Gewährenlassen als auch in der aktiven Unterstützung liegt, als tiefen historischen Einschnitt. Und tatsächlich scheint mit dem wissenden Schweigen zur Vernichtung Gazas ein Endpunkt erreicht. Auch wenn die normative Ordnung, die zumindest behauptete, jedes Menschenleben zu würdigen, schon immer verlogen war, so tut sich mit der offenen Absage an ihre Werte und Prinzipien ein noch tieferer moralischer Abgrund auf. Die Ungleichheit des Wertes menschlichen Lebens wird nicht nur hingenommen und auch nicht mehr metaphysisch eingehegt, sondern zum neuen Prinzip einer völlig regellosen Welt. Doch Fassin glaubt daran, dass eines Tages die Geschichte wieder anders erzählt werden wird: „Die Palästinenser werden wieder eine Stimme bekommen, und mit ihr wird eine Sprache wiedergeboren werden. Die Worte werden ihre wahre Bedeutung wiederfinden. (…) Man wird es nicht mehr wagen zu behaupten, dass das Leben der einen weniger wert ist als das der anderen, und dass der Tod der einen nicht so beklagenswert ist wie der der anderen. Man wird begreifen, dass die Entmenschlichung des Feindes den Verlust der Menschlichkeit derer mit sich bringt, die sie vorbringen“ (S. 92; dt. Übers. der Verf.).

    https://www.editionsladecouverte.fr/une_etrange_defaite-9782348085369

    https://www.versobooks.com/products/3370-moral-abdication

  • Stumpft die Fixierung auf den Genozidbegriff uns gegen neue Genozide ab?


    A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur, Berlin (Matthes & Seitz) 2023, 160 S.

    „Nach dem Genozid“ – es ist schwer, in diesen Tagen den Titel der 2023 auf deutsch erschienenen, stark gekürzten Fassung von Dirk Moses’ epochalem 600-Seiten-Werk „Problems of Genocide“ nicht auf Gaza zu beziehen, wo es bald kein palästinensisches Leben mehr geben dürfte. Aber gerade in Bezug auf Gaza hat auch die andere, eigentliche Bedeutung des Titels einen Sinn: dass der Genozidvorwurf selbst nicht taugt, um diese Verbrechen zu verhindern, und die Verbrechen eher verschleiert als klärt. Während sich die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass es sich beim Vorgehen Israels in Gaza tatsächlich um einen Genozid handelt, ist es für Zehntausende von getöteten Menschen schon zu spät, und man ahnt, dass die Fixierung auf das Genozid-Paradigma selbst dazu beigetragen haben könnte. Die Institutionen des Völkerrechts kollabieren, und im Moment dieses Niedergangs werden ihre Geburtsfehler sichtbar.

    In Moses’ deutschem Buch ist, anders als in der englischen Vollversion, von Palästina fast nicht die Rede. Die zeitgenössischen Fallbeispiele sind vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine, aber auch Sudan, Syrien, Myanmar, China. Es wurde vor dem 7. Oktober fertig gestellt und nimmt wohl auch Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten. Seine große These ist aber auch ohne expliziten Bezug auf Palästina mit der Staatsräson-getriebenen deutschen Erinnerungskultur inkompatibel. Sehr kurz zusammengefasst die These: Laut Genozid-Konvention 1948 sollten Verbrechen wie der Holocaust in Zukunft verhindert werden. Doch ihre Unterscheidung zwischen militärischen und genozidalen Intentionen (die ersteren zielen auf Niederschlagung, die letzteren auf Vernichtung) ermöglichten es genozidaler Kriegsführung, also Kriegen mit Vernichtungsabsicht, sich der engen Definition der Genozid-Konvention zu entziehen.

    Moses sagt, dass genozidale wie auch andere Formen der Massengewalt gegen Zivilist:innen von einer Pseudo-Rationalität getrieben werden, nämlich dem Streben nach einer „permanenten Sicherung“ durch Verhinderung antizipierter Angriffe. Das äußert sich in den Begrifflichkeiten der „Sicherheit“, der „Vorbeugung“, der „Endlösung“ etc. Die Pseudo-Rationalität der dauerhaften Sicherung rechtfertigt auch Massentötungen und Belagerungen von Zivilist:innen in nicht oder noch nicht genozidalen Kriegen, die Widerstand und Bedrohung nicht antizipieren, sondern darauf reagieren: mit Flächenbombardierungen und Drohnenangriffen, mit dem Einsatz der Atombombe, mit Aushungern und langsamem Sterbenlassen, mit Kolonialverbrechen aller Art. In der Praxis gehen militärische und genozidale Logiken und Intentionen Hand in Hand und sind miteinander verflochten. 

    Dass in Konflikten, wo es letztlich um Widerstandsbekämpfung geht, aus jedem Kind ein Terrorist werden und jeder unschuldige Mensch ein „human shield“ sein kann, macht grässliche Verbrechen möglich, die dann für die Zuschauer quasi unmerklich ethnisch und rassistisch aufgeladen in Genozide übergleiten können. Die Betroffenen wissen natürlich von Anfang an, welch verbrecherischer Dynamik sie ausgesetzt sind. Aber die Täter, die Bystander, die Komplizen können sich die Verbrechen schönreden, mit Verweis auf Verteidigung und dauerhafte Sicherung. „Nie wieder Hamas“ resultiert unter der Maßgabe der permanenten Sicherung zwangsläufig in der Zerstörung Gazas, in der Massentötung von palästinensischen Zivilist:innen und in ethnischer Säuberung, unter dem „humanitären“ Vorwand, das sei auch im Interesse der Bevölkerung. 

    Die deutsche Mehrheitsgesellschaft – in Medien, Politik, und auch in Fachkreisen – hat bis heute Dirk Moses nicht verziehen, dass er den „Katechismus“ ihrer staatlich sanktionierten Erinnerungskultur durch schlichte Beschreibung seiner Bestandteile bloßgelegt hat. Moses hatte mit seiner Intervention lediglich vorgeschlagen, die völkischen Vorannahmen der Erinnerungskultur loszuwerden und sie so weiterzuentwickeln, dass sie inklusiv für Opfererinnerungen wird, die von der Singularitätsthese mit ihrer Fixierung auf Ideologie verdeckt werden.

    Der „Historikerstreit 2.0“, oder wie immer man ihn nennen soll, zeichnet sich in Deutschland nun leider unter anderem auch dadurch aus, dass Dirk Moses bis heute regelmäßig diffamiert und in die Nähe von Holocaustverharmlosern und ‑relativierern gerückt wird. Eine Diskursanalyse der Selbstwidersprüche und empirischen Falschheiten, mit denen in deutschen Medien sein Ruf zerstört wurde, steht aus. „Moses und andere wollen weder in der Shoah noch im NS-Antisemitismus spezielle Qualitäten erkennen, die den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden von kolonialen Genoziden fundamental unterscheidet“, muss man jetzt gerade wieder in der Mai-Ausgabe der „Sehepunkte“ lesen, und keine deutschen Fachkolleg:innen nehmen Moses gegen diese abstruse Verleumdung in Schutz. Natürlich weiß Moses um die „speziellen Qualitäten“ des Holocaust und um die Unterschiede zu den kolonialen Genoziden. Aber er analysiert sie eben im historischen Zusammenhang, mit der besonderen Temporalität, die der Holocaust hatte: 

    „Sie planten die Eliminierung feindlicher Gruppen im Voraus. Anders als ‚klassische‘ imperiale Gewalt war ein Großteil ihrer Gewalt dementsprechend vorsätzlich geplant. Sie versuchten, der Geschichte eine Richtung vorzugeben. So gesehen markieren das nationalsozialistische Reich und dessen berüchtigte Vernichtungspolitik den Kulminationspunkt jahrhundertelanger Imperienbildung sowie denjenigen der Vernichtung von in- wie ausländischen Feind*innen, seien sie real oder eingebildet. Dieses imperiale Projekt stand unter dem Zeichen eines ‚Erlösungsimperialismus‘, weil es, wie Hitler sagte, zur historischen ‚Lösung der deutschen Frage‘ führen würde, für die ‚es nur den Weg der Gewalt geben‘ könne. Der ‚Erlösungsantisemitismus‘ der Nationalsozialist*innen war ein integraler Bestandteil dieses Projekts, schließlich bedeutete die Vernichtung ‚der Juden‘ für sie auch eine grundlegende Antwort auf ‚die deutsche Frage‘.“ (S. 104–105) 

    Die selbstwidersprüchlichen, gehässigen und verständnislosen Unterstellungen,  die in Deutschland sonst noch gegen ihn vorgebracht wurden, sind teilweise an anderer Stelle widerlegt worden, aber diese Arbeit ist wohl müßig. Die deutsche Erinnerungskultur muss sich endlich davon befreien, die „Lehre aus dem Holocaust“ nationalistisch misszuverstehen. Mit Staatsräson und permanenter Sicherung ist einem neuen Massenmord an Juden, wie am 7. Oktober 2023 geschehen, nicht beizukommen. Stattdessen wird Deutschland sich immer tiefer in Verbrechen und sich vollziehende Genozide verstricken. Wie jetzt in Gaza. Darum geht es Dirk Moses.

    https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/nach-dem-genozid.html

  • Zur Auseinandersetzung um das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas

    Alexandra Senfft: Ignorierte Opfer. Sinti und Roma kämpfen weiter um die Erinnerung an den NS-Völkermord, Forum Wissenschaft (2025) 1, 29-32. 

    Das Bekenntnis Deutschlands zur Erinnerung an den Holocaust und zu den historischen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Jüdinnen und Juden ist inzwischen weitgehend ritualisierter Bestandteil staatspolitischen Auftretens. Für die andere Opfergruppe, die der Nationalsozialismus vollständig vernichten wollte, die Sinti und Roma, gelten diese deutschen Bekenntnisse weit weniger, obwohl sie mit gleicher brutaler Systematik entrechtet und ermordet wurden wie Jüdinnen und Juden. Nach dem Krieg blieb eine Anerkennung des Porajmos, des Genozids an ihnen, lange Zeit aus. Bis heute erfahren sie Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung und stehen bei Anlässen des kollektiven Erinnerns meistens am Rand – wenn sie überhaupt in Erscheinung treten.

    Alexandra Senfft schildert als einen besonders aufschlussreichen Fall die Auseinandersetzungen um das Denkmal im Berliner Tiergarten, das an die vom NS-Regime ermordeten Sinti und Roma erinnert. Erst 2012 konnte es – nach langem institutionellem Widerstand und zähem Hinhalten der Politik – eingeweiht werden. Die Gestaltung stammt vom israelischen Künstler Dani Karavan (1930–2021), der eine aus Klang, Skulptur und Natur zusammengesetzte Architektur, umgeben von Bäumen, schuf. Doch seit 2020 planen der Senat und die Deutsche Bundesbahn eine neue S-Bahn-Trasse „S21“, deren zweiter Bauabschnitt das Denkmal untertunneln wird. Zunächst sollte das Denkmal dafür vollständig abgetragen, dann vorübergehend entfernt werden. Es wurde schließlich eine Lösung gefunden, die die Architektur selbst halbwegs intakt halten wird, aber man muss damit rechnen, dass die umliegenden Bäume, die integraler Teil des Konzepts sind, gefällt werden. Für viele Sinti und Roma bedeutet das eine Entweihung des Ortes. 

    Der 2021 verstorbene Dani Karavan trug 2020 den Protest der Sinti und Roma mit und beklagte, „dass man mit dem (2005 eröffneten) Denkmal für die ermordeten Juden Europas niemals so umgegangen wäre“. Senfft beschreibt, wie Karavan schon bei der Arbeit an dem Denkmal stark aufgefallen war, „dass Romanes-sprachige Menschen als Opfer zweiter Klasse betrachtet werden: ‚Als Jude kann ich das sagen. Man interessiert sich für die Sinti und Roma nicht.‘“ Die Familie Karavans hat im Juli 2024 einen Protestbrief gegen die S-Bahn-Trasse mitinitiiert, der von zahlreichen Kunst- und Kulturschaffenden unterzeichnet wurde. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, dass die Risiken einer Beschädigung des Denkmals ernstgenommen würden – obwohl man wohl froh sein muss, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. 

    Ich finde diesen Fall aus zwei Gründen besonders interessant, die in dem Beitrag nicht reflektiert werden: Zum einen zeigt der Einsatz der Familie Karavan eine opferübergreifende Solidarität, die man auch in vielen anderen Konstellationen beobachten kann. Angehörige von Holocaustopfern setzen ihre Positionalität ein, um Angehörigen von Opfern des Porajmos zu helfen. Es setzen sich auch heute Juden, jüdische Israelis für Palästinenser:innen ein; Ukrainer:innen sind ebenfalls mit Palästinenser:innen solidarisch, Rom:nja ebenso; Palästinenser:innen solidarisieren sich wiederum mit Sudanes:innen, usw. Aus der gemeinsamen Erfahrung der Marginalisierung und Entrechtung und des drohenden oder vollzogenen Genozids entsteht Widerstand gegen die Versuche der Mehrheitsgesellschaft, die Opfergruppen gegeneinander auszuspielen und die einen gegenüber den anderen zu privilegieren. 

    Zum anderen weist der Fall weist aber auch noch darüber hinaus. Es hat für die Durchsetzung und den Erhalt des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungskultur sicherlich sehr geholfen, ja, war möglicherweise entscheidend, dass Dani Karavan Jude war; dass er auch Israeli war, mag weiterhin nützlich gewesen sein. Aber dieser Einsatz jüdisch-israelischer Positionalität in der deutschen Erinnerungskultur ist voller Ambivalenz. Karavans erste große Denkmal-Architektur war ein Monument für die Palmach-Brigade in der Negev-Wüste, in der Nähe von Beersheba in den Jahren 1963 bis 1968 erbaut – ein Ensemble aus Beton, Wüstenakazien, Wasser und Windorgeln. Die Palmach waren zionistisch-gemäßigte Paramilitärs, die vor der Gründung Israels mit den Briten zusammenarbeiteten und einerseits Siedlungen gründeten und verteidigten, andererseits die zionistisch-extremistischen Terrororganisationen der Irgun bekämpften. Wenn die Schlacht bei El-Alamein gewonnen worden und Nazi-Deutschland in Palästina einmarschiert wäre, hätten die Palmach die dort lebenden Juden gegen ihre sichere Ermordung im Holocaust verteidigt. Stattdessen kämpften sie im Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Staaten und waren maßgeblich an der Nakba beteiligt. In der Negev, wo Karavans Denkmal an die Palmach erinnertsteht, übernahmen sie die ethnische Vertreibung der palästinensischen Bedouinen aus ihren Dörfern; diese hatten 48 Stunden Zeit, um sich nach Gaza zu begeben. Als Karavan 1963 mit der Arbeit an dem Denkmal begann, war es gerade erst 15 Jahre her, dass die gesamte arabische Bevölkerung Beershebas vertrieben oder in Massakern getötet worden war.

    Aus einer verengten antizionistischen Perspektive mag die Positionalität Karavans und seine Annahme von Staatsaufträgen wie für das Palmach-Denkmal ihn für ein Denkmal an die ermordeten Sinti und Roma disqualifizieren. Ich sehe es aber anders: Ich  würde mir wünschen, dass eine ganzheitliche Problematisierung dieser erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Zusammenhänge möglich wäre. Das Denkmal im Tiergarten ist für die Gemeinschaft der Roma und Sinti wichtig und wird von den Angehörigen der Opfer als ein Ort des Gedenkens angenommen – während das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ von Anfang an, nach den Worten Paul Spiegels, nur „das offizielle Denkmal der Bundesrepublik Deutschland“ war, und kein „Gedenkort der Juden in Deutschland“. Der Wunsch der Rom:nja nach einem respektvollen, und das heißt auch nicht ritualisierten, nicht bürokratisierten und nicht politisierten Umgang mit dem Denkmal muss respektiert werden. Gleichzeitig sollte der Preis, der für eine staatliche Anerkennung des Opferstatus in der offiziellen Erinnerungskultur immer bezahlt werden muss, und den in diesem Fall wieder einmal die Palästinenser:innen zahlen, reflektiert werden. Denn nur so kann man verhindern, dass die Solidarität zwischen Opfergruppen exklusiv wird und ihrerseits Marginalisierung hervorbringt. 

    https://www.bdwi.de/show/11261854.html

  • Peter Beinhart im Gespräch mit Karen Attiah über Jüdischsein

    Peter Beinart: Being Jewish After the Destruction of Gaza: A Reckoning, Gespräch mit Karen Attiah, Bookstore Politics and Prose, Washington DC, 25. Februar 2025.

    Hier „picke“ ich ein Gespräch mit Beinhart, geführt mit Karen Attiah, am 25. Februar 2025 in einem überfüllten Buchladen in Washington DC, das ich besonders bewegend finde. Er ringt – auf der Grundlage seines jüdischen Glaubens und seines Verständnisses von jüdischer Tradition – um konkrete Antworten auf konkrete ethische Fragen angesichts der Zerstörung Gazas und des andauernden Genozids an den Palästinenser:innen. Dass so viele jüdische Gemeinden sich über den Zionismus und über Israel definieren und Apartheid und Genozid mit dem Schutz des Judentums legitimieren, versteht er auch als Ausdruck einer spirituellen Armut und der Trivialisierung jüdischer Traditionsbestände. Fast immer werde die Geschichte des jüdischen Volkes nur als Geschichte von Opfern und von Selbstbehauptung erzählt: das jüdische Volk in einem Überlebenskampf mit dem absolut Bösen, mit „Amalek“. Dabei werde übergangen, dass in den biblischen Geschichten auch Jüd:innen Täter sind und, wie jedes Volk, Massenverbrechen begehen können. Für die spirituelle Praxis und ethisch-religiöse Bildung sei es jedoch wichtig, die Möglichkeit zu berücksichtigen, selbst Täter zu sein. Er ruft ein Judentum auf, in der Jüd:innen gleiche Rechte benötigen und beanspruchen, wo immer sie leben, und nicht die Suprematie eines Staates, der die Selbstbestimmungsrechte und Menschenrechte von Nichtjuden verletzt . 

    Beinhart erzählt von Freunden und Verwandten, „loved ones“, die wegen seiner klaren Haltung zum Genozid den Kontakt zu ihm abgebrochen haben. Er erklärt ihr Schweigen und ihre Abwendung damit, dass sie schlechtere oder gar keine Argumente haben. Sie können sich aufrichtigen Diskussionen nicht stellen und wollen nicht zuhören. Aber es ist sehr eindrucksvoll, dass und wie seine leidenschaftlichen Stellungnahme nie moralisch überheblich oder verhärtet klingt. Er entzieht sich der Instrumentalisierung der Geiseln und den „Empathie“-Bekenntnissen, und um so glaubwürdiger wirkt die Empathie, die er für die Geiseln zeigt, auch in der gemeinsamen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. 

    Im Gespräch gibt es eine längere Passage, in der er über seine Erfahrungen in Südafrika spricht, wo sich ebenfalls eine suprematistische Elite aus Angst vor dem durchaus gewaltsamen Widerstand und der Rache der ANC die Abschaffung der Apartheid nicht vorstellen konnte. Die Geschichte Südafrikas und auch Irlands lehren, dass die eigene Sicherheit zunimmt, wenn ein Unterdrückungsregime endet, weil dann terroristischer Widerstand überflüssig wird. Diese Erkenntnis will Beinhart auf Israel/Palästina übertragen. Aber hört am besten selbst: 

    ↗ https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=yBwLLJM1EGw

  • Aufstieg und Kontinuitäten der Anti-Migrations-Linken

    Vinit Ravishankar: The Rise and Rise of the Anti-Migrant Left: Reject Parochialism, Embrace Migration, The Left Berlin, 13. Januar 2025.

    Bei all den Protesten gegen das Einreißen der Brandmauer zur AfD durch Friedrich Merz und seine CDU im Zuge der gemeinsamen Abstimmung für den Fünf-Punkte-Plan zur Verschärfung der Migrationspolitik ging ein wenig unter, dass daran auch das Bündnis Sarah Wagenknecht beteiligt war. Die Partei hatte sich im September 2023 erst gegründet und von der Linken abgespalten, um den Wähler:innen ein – wie es damals hieß – sozialpolitisch linkes und gesellschaftspolitisch konservatives Angebot zu machen. Ein gutes Jahr später steht das Bündnis in migrationspolitischen Fragen so weit rechts, dass selbst eine gemeinsame Politik mit der AfD dort niemanden mehr abzuschrecken scheint. Für The Left Berlin stellt Vinit Ravishankar diese und ähnliche Entwicklungen in Europa und den USA in einen größeren historischen Kontext: vom „Jingo-Socialism“ der US-amerikanischen Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum Ausschluss der sog. „Gastarbeiter“ aus den Gewerkschaften und Betriebsräten im Nachkriegsdeutschland. Auch wenn, so Ravishankar, eine globalisierte Arbeitsmigration durchaus im Sinne neoliberaler Politik sei, so dürfe daraus für eine Linke nicht folgen, sich nach der Logik nationalstaatlicher Abschottung gegen die ausgebeuteten Migrant:innen zu wenden; vielmehr müsse es darum gehen, sie im Sinne internationaler Solidarität bei ihrer Emanzipation vor Ort zu unterstützen.

    https://www.theleftberlin.com/the-rise-and-rise-of-the-anti-migrant-left/

  • Neoliberale Neuauflage des Faschismus?

    Zeynep Gambetti: Exploratory Notes on the Origins of New Fascisms, Critical Times (2020) 3 (1), 1-32.

    Ich finde den Text von Gambetti sehr klug. Er greift Hannah Arendts Überlegungen zu faschistischer Macht auf und diskutiert, wie diese aus dem damaligen „Imperialismus-Faschismus-Totalitarismus-Nexus“ auf den heutigen „Biopolitics-Sicherheits-Neoliberalismus-Nexus“ übertragen werden können. Für Gambetti wesentlich ist die letztlich aus Angst geborene Reproduktion der Entwertung der „Schwachen“ und „Unnützen“, die zu einer Bedrohung gemacht und dehumanisiert werden. Über die Angst „erfasse“ der Faschismus den Einzelnen „von innen“ – auch heute. 

    Ich hadere allerdings auch mit dem Text und finde Gambettis Übertragung der Angst im Totalitarismus, als Motivation für das Begehren, sich zu unterwerfen, auf die Angst im Neoliberalismus etwas ungenau. Ich glaube nicht, dass Arendt da mitgegangen wäre – auch weil sie in jeder Situation von der Möglichkeit der persönlichen Verantwortung ausging. Vor allem erklärt mir die Angst nicht, was ich in Brandenburg oder auch in Bombay und Delhi als faschistische Tendenzen beobachte. Der Fokus auf die Produktion von Unsicherheit und Angst im Neoliberalismus blendet aus, was in der ethnographischen Beobachtung nur allzu deutlich ins Auge sticht: die Freude, und das Gefühl der Ermächtigung bei denen, die von faschistischen Angeboten überzeugt werden. Nun kann man natürlich sagen, dass man sich machtlos fühlen muss, um Freude an einer Selbst-Ermächtigung zu haben. Aber ist das so? Braucht es ein Gefühl von Machtlosigkeit, um Freude an der Macht zu erleben? Womöglich übersehen solche „Defizit“-Analysen der Möglichkeit von Faschisierungsprozessen  wesentliche Momente. Und das wiederum mindert die Strategien der Widerständigkeit.

    https://read.dukeupress.edu/critical-times/article/3/1/1/165497/Exploratory-Notes-on-the-Origins-of-New-Fascisms

  • Das deutsche Schweigen über die Proteste in Serbien

    Julian Borger: “We’ve Proved that Change is Possible” – but Serbia Protesters Unsure of Next Move, The Guardian, 3. Februar 2025.

    Es war der letzte Arbeitstag der Woche, der 1.11.2024. Der Bahnhof in Novi Sad, einer pulsierenden, multikulturellen Stadt, war belebter als sonst. Um 11:52 Uhr stürzte das Bahnhofsvordach ein und tötete 15 Menschen. Schock, Trauer und Wut breiteten sich im ganzen Land aus. Aus Mahnwachen und Verkehrsblockaden entwickelte sich eine Protestbewegung, angeführt von Studierenden, die seitdem von der Regierung Rechenschaft, Transparenz und Verantwortung fordern. Die Tragödie in Novi Sad passierte vor dem Hintergrund einer lange bestehenden, systemischen Korruption, zunehmender Armut und vielfältiger Menschenrechtsverletzungen. Dabei hat sich Serbien in den letzten Jahren zu einem attraktiven Land für ausländische Investoren entwickelt und hat sich dem Westen auf durchaus widersprüchliche Weise angenähert. Belgrad hat für 800 Millionen Dollar Munition an die Ukraine geliefert, ohne sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Es gibt einen lebhaften Waffenhandel zwischen Serbien und Israel (hier, hier und hier). Im vergangenen Sommer war Bundeskanzler Olaf Scholz dabei, als die EU trotz der Bürgerproteste in Serbien und trotz des Widerstands von Umweltaktivisten einen „Lithium-Pakt“ schmiedete: ein Rahmenabkommen über den Lithiumabbau für die Produktion von Elektrofahrzeugen. Die EU will durch Kooperation mit den korrupten und autoritären Machthabern in Belgrad ihre Lithium-Abhängigkeit von China verringern. Serbiens Präsident gehörte der Regierung von Milošević an und trägt für die Kriegsverbrechen (u. a. Völkermord) in den Jugoslawienkriegen Mitverantwortung.

    Warum erfahren wir in Deutschland so wenig über die Studierendenproteste in Serbien? (Ausnahmen hier, hier, hier, hier oder hier). Warum gibt es keine Stellungnahmen von EU-Politiker:innen? 

    Im Guardian ist am 3.2.2025 ein Artikel erschienen, der die Komplexität dieser seit drei Monaten täglich stattfindenden Proteste anschaulich einfängt und das Schweigen der EU addressiert. Es fällt manchen von uns, die wir in Deutschland in der Diaspora leben, schwer, dieses Schweigen nicht mit dem Schweigen zusammenzudenken, das die genozidalen Schrecken in Gaza und im Westjordanland ignoriert.

    With student-led activists reluctant to engage politically against well-entrenched regime, many are asking: now what?