Alberto Toscano: Spätfaschismus. Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik, aus dem Englischen übersetzt von Jonathan Rößler, Münster (Unrast Verlag) 1925.
Dass Alberto Toscano mit seinem jüngst auch auf Deutsch erschienen Buch einen Nerv getroffen hat, konnte man Ende Juni in der Berliner Volksbühne sehen. Dort wurde die Buchvorstellung mit prominenten Gästen (Bafta Sarbor, Lama el Khatib und Quinn Slobodian) im fast ausverkauften, großen Saal begangen. Toscano liefert keine Gegenwartsdiagnose à la „das ist jetzt Faschismus“ und lehnt eine Begriffsdefinition, etwa entlang einer Checkliste von Kernmerkmalen, strikt ab. Als orientierungssuchende Leser:in kann einen diese Haltung durchaus frustrieren. Aber man wird fürs Weiterlesen belohnt: vor allem mit einem Denkangebot, den Faschismus nicht als spektakulären Ausnahmezustand, als das radikal Andere von Freiheit und Demokratie zu verstehen, sondern als Potential und Prozess, der gerade auch innerhalb liberaler Demokratien gedeiht und darin von unterschiedlich positionierten Gruppen – entlang von Rasse, Geschlecht und Sexualität – sehr unterschiedlich erfahren wird.
Das Buch ist in sieben Kapitel untergliedert, die zwar aufeinander aufbauen und sich aufeinander beziehen, aber je nach Interessenlage auch sehr gut einzeln gelesen werden können. Alle Kapitel haben gemeinsam, dass Toscano die ihn inspirierenden Autor:innen ausführlich zu Wort kommen lässt und sie in oft überraschender Weise aufeinander bezieht und miteinander in Verbindung setzt. Ich will hier kurz vor allem zwei Kapitel vorstellen, die ich für besonders wichtig halte: nämlich Kapitel 2: „Racial Fascism“ und Kapitel 3: „Fascist Freedom“.
Mit Rückgriff auf antikoloniale Denker:innen und Scholars/Aktivist:innen der amerikanischen Black Radical Tradition der 1970er Jahre stellt Toscano in „Racial Fascism“ die gängige historische Einordnung des Faschismus auf den Kopf. Er argumentiert, anknüpfend an Aimé Césaire, W.E.B. DuBois und andere, dass die Brutalität kolonialer Herrschaft und Ausbeutung und die mit Gewalt unterlegten und Gewalt generierenden kapitalistischen Spaltungen der US-amerikanischen Reconstruction als frühe Faschismen zu verstehen seien. Diese hätten die späteren, heute als „historischer Faschismus“ geltenden Regime in Italien, Deutschland, Kroatien etc. der Zwischenkriegszeit vorbereitet und mitgeprägt. In einem zweiten Schritt greift Toscano die Erkenntnis auf, dass Faschismus keinesfalls mit dem „historischen Faschismus“ und seinen Kapitulationen in den 1940er Jahren zu Ende ging – zumindest nicht für diejenigen, die auch in Demokratien brutaler Entrechtung und Gewalt ausgesetzt waren und sind. Er zitiert hier unter anderem aus den Gefängnisschriften von Angela Davies und George Jackson und stellt fest:
“Jackson and Davis are profoundly aware of the disanalogies between present forms of domination and historical fascism, but they both assert the epistemologically privileged vantage point provided by the view from within a carceral-judicial system that could fairly be described as a racial state of terror. In distinct ways, they can be seen to relay and recode that foundational gesture of anti-racist and Black radical anti-fascism crystallised in Césaire’s Discourse on Colonialism. As the Martinican poet and politician tells it: ‘And then one fine day the bourgeoisie is awakened by a terrific boomerang effect: the gestapos are busy, the prisons fill up, the torturers standing around the racks invent, refine, discuss.’” (Toscano 2023, 32)
Faschismus und faschisierende Prozesse seien hartnäckig und dennoch oft unsichtbar für diejenigen, die das Privileg haben, nicht direkter Gewalt und Terror ausgesetzt zu sein.
In dem Kapitel zu „Fascist Freedom“ geht es Toscano um die Klärung des Verhältnisses von Faschismus und Neoliberalismus, das anders verstanden werden müsse. Ich finde dieses Kapitel vor allem deshalb wichtig, weil Faschismus und Neoliberalismus heute als politische Kampfbegriffe eine frustrierende Unklarheit aufweisen, trotzdem ungebrochen relevant erscheinen und derzeit in Gegenwartsdiagnosen eher konkurrieren als zusammengedacht werden. Nach dem Motto: ist das jetzt (noch) Neoliberalismus oder (schon) Faschismus? Für Toscano ist das die falsche Frage. Er zeigt auf, dass die herkömmliche Vorstellung, dass der Neoliberalismus grundsätzlich staatskritisch ist, während der Faschismus jede Form von Freiheit zugunsten der Staatsmacht abschafft, weder theoretisch noch historisch zutrifft. Er zitiert aus den Schriften von Mussolini, Reinhard Höhn, Ludwig von Mises und anderen, um den Nachweis zu führen, dass der Neoliberalismus durchaus für den Staat ist, aber für eine ganz bestimmte Art von Staat, nämlich den, der die Marktkräfte freisetzt und Eigentum verteidigt. Der Faschismus wiederum ist durchaus für Freiheiten, aber nur für ganz bestimmte Freiheiten von privilegierten Gruppen. Auch im Dritten Reich wurden den Anhänger:innen und Ausführenden des Regimes erhebliche Freiheiten zugestanden. Nach Toscano ist es ein Fehler, die „spontaneities and enjoyments that fascism offers to its managers, militants or minions” (Toscano 2023, 61) zu übersehen und nicht erst zu nehmen.
Wer bis zum Ende weiterliest, wird im kurzen Schlusskapitel dann doch mit zarten definitorischen Ansätzen belohnt. Toscano macht „four interlocking dimensions of the history and experience of fascism” (Toscano 2023, 156) aus, für die er seine Leserschaft sensibilisieren will. Diese sind in aller Kürze: 1) dass es Faschismus schon vor dem „historischen Faschismus“ gab und dass er diesen überlebt hat; 2) dass Faschismus keinesfalls von allen gleich erlebt wird; 3) dass Faschismus sich als ein Modus präventiver Gegengewalt verstehen lässt, mit der auf epochale Paniken (etwa die Panik des „Großen Austauschs“) reagiert wird; und 4) dass Faschismus von seinen Anhänger:innen und Ausführenden nicht nur Unterwerfung fordert, sondern ihnen auch bestimmte Formen von Freiheit bietet – etwa die Freiheit, Gewalt auszuüben und dies zu genießen.
↗ www.unrast-verlag.de/produkt/spaetfaschismus/