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  • Wie die Anerkennung Palästinas in Frankreich debattiert wird

    Wie die Anerkennung Palästinas in Frankreich debattiert wird

    Die Anerkennungswelle Palästinas durch westliche Staaten, bei der Deutschland nicht mitgemacht hat, verdankt sich der Initiative Frankreichs. Präsident Macron ist innenpolitisch isoliert, in vieler Hinsicht gescheitert und unbeliebt, aber seine Außenpolitik zeigt diplomatische Führungsstärke. Das hat auch dazu beigetragen, dass der Diskurs in Frankreich wieder einmal weiter und offener ist als der in Deutschland. Man kann in Frankreich bereits etwas kritisieren, das in Deutschland noch nicht erreicht ist. Eine Gruppe von Jurist:innen und Professor:innen, am prominentesten Rafaëlle Maison, Professorin für Internationales Recht an der Université Paris-Saclay, beschäftigt sich mit den potentiell negativen Folgen, die aus der rein symbolischen Anerkennung eines de facto nicht existierenden Staates – das Staatsterritorium ist von israelischen Siedlungen zerfressen, die Staatsgewalt ausgehöhlt, das Staatvolk einem Genozid ausgesetzt – drohen. Rafaëlle Maison hat am 11. September einen Artikel veröffentlicht, der die Fallstricke einer Anerkennung ausbuchstabiert, und am 13. September der Plattform Le Média ein Interview gegeben, um die „Schattenzonen“ von Macrons Plan auszuleuchten. Jede Anerkennungspolitik sollte daran gemessen werden, ob sie dem für das Internationale Recht fundamentalen Selbstbestimmungsrecht der Völker dient oder schadet.

    In dem Interview zitiert Maison aus dem Brief, den Macron am 25. August 2025 an Netanjahu geschrieben hat. Macron rechtfertigt darin seine Entscheidung: „Our determination to ensure that the Palestinian people have a State is rooted in our belief that a lasting peace is essential to the State of Israel’s security“. Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen findet in dem Brief keine Erwähnung. Das Pferd wird von hinten aufgezäumt: Die Rechte der Palästinenser:innen werden nur als eine Funktion der Sicherheit eines ethnisch-national definierten Israels verstanden; nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel. Mit diplomatischer Rücksichtnahme gegenüber Netanjahu alleine ist das nicht zu erklären. In seiner Rede vor der UN Generalversammlung am 22. September bekannte sich Macron zwar ausdrücklich, anders als in dem Brief, zu den „legitimen Rechte(n) des palästinensischen Volkes“, und sprach von dem „Volk, das in seiner Geschichte, seiner Verwurzelung und seiner Würde Kraft findet“. Und trotzdem führte er auch hier als Hauptgrund für die Anerkennung die französische Loyalität zu Israel an: „Gerade weil wir überzeugt davon sind, dass diese Anerkennung die einzige Lösung ist, die den Frieden für Israel ermöglichen kann.“

    Der Rede Macron lässt sich entnehmen, dass die Anerkennung dazu führen soll, dass der Völkermord aka Krieg beendet wird. Wenn aber die Rechte der Palästinenser:innen immer nur instrumentell gesehen werden, dann kann es auch keine dauerhafte Friedenssicherung geben. Maison entlarvt Macrons Anerkennung und sein Bekenntnis gegen Gewalt als Lippenbekenntnis. Die „Normalisierung“, die er sich für Israel wünscht, das weiterhin (zwingendes) Völkerrecht bricht, soll weiterhin, mit oder ohne palästinensischen Staat, gewaltvoll durchgesetzt werden. Das zeigt sich schon in der ersten Hälfte des Briefes, wo Macron sich lang und breit auf Frankreichs offizielle Annahme der IHRA-Definition von Antisemitismus beruft. Die Annahme der IHRA-Definition, „which condemns anti-Zionism as a form of antisemitism”, war 2017 eine seiner ersten Amtshandlungen und bildet die Grundlage für seine Anerkennungspolitik. Die von Macron in die IHRA-Definition hineininterpretierte umstandslose Gleichsetzung jeder auch noch so legitimen Gegnerschaft gegen einen exkludierenden und ethnisch definierten Staat mit der Feindschaft gegen Juden als Juden muss alle von Israel ausgebürgerten und enteigneten Palästinenser:innen, die selbstverständlich ein Problem mit dieser Staatlichkeit haben, quasi automatisch zu Judenfeinden erklären (– ganz abgesehen davon, dass diese Gleichsetzung selbst antisemitisch ist). Macrons Brief an Netanjahu zeigt: Die gewaltvolle Instrumentalisierung der Antisemitismusbekämpfung und die pauschale Diffamierung und Ausgrenzung von Palästinenser:innen als Antisemiten ist weit mehr als nur Begleiterscheinung oder Kollateralschaden der derzeitigen Anerkennungspolitik; sie ist dieser inhärent.

    Rafaëlle Maison interessiert die Anerkennung aber vor allem aus völkerrechtlicher Perspektive. Sie analysiert die von Frankreich und Saudi Arabien initiierte und auch von Deutschland unterzeichnete „Erklärung von New York“ vom 29. Juli, sowie den am selben Tag von den Außenministern von 15 westlichen Staaten (Deutschland war nicht darunter) getragenen „New York Call“ als Reaktion und eine Art Ablenkungsmanöver, um von dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs „zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik“ abzulenken. Der IGH hatte genau ein Jahr zuvor geurteilt, dass die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete illegal ist, Israel aus den Gebieten abziehen und Reparationen leisten muss. Die UN-Generalversammlung hatte daraufhin am 18. September 2024 mit großer Mehrheit (und Enthaltung Deutschlands) die Resolution ES-10/24 angenommen, die ein Stopp von Waffenlieferungen vorschreibt, wenn diese in den besetzten Gebieten eingesetzt werden, und zum Boykott von Waren aus israelischen Siedlungen auffordert. Statt dem IGH-Gutachten zu folgen (das alle, auch das Auswärtige Amt, zu respektieren vorgeben), beriefen Frankreich und Saudi Arabien für den Juli 2025 die UN-Konferenz zu der Anerkennungsfrage ein.

    Rafaëlle Maison sieht die Ergebnisse „potentially in violation of international law as outlined by the ICJ in 2024”. Der palästinensische Staat, der unter gegebenen Verhältnissen sowieso etwas Fiktives hat, solle auch in der unwahrscheinlichen Zukunft, dass es ihn wirklich geben darf, nur unter Bedingungen existieren: unter den Bedingungen der Abgabe der Waffen der Hamas an die von Israel kontrollierte Palestinian Authority, was de facto eine Demilitarisierung bedeute (Para. 11 der Erklärung), des Respekts der sich zur Wahl stellenden Akteure für die „internationalen Verpflichtungen“ der PLO (Para. 22), des Ausschlusses der Hamas sowie der Verfolgung einer liberalen Reform-Agenda. Zur letzteren schreibt Maison: „These recipes sound a lot like a free-market programme, compromising the sovereign choices oft he State-to-be and requiring – incongruously in appearance, but in reality quite significantly – a control over freedom of expression.“ Dem völkerrechtlich garantierten Rückkehrrecht werde ein Lippenbekenntnis gezollt, tatsächlich werde eine „just solution“ für das Flüchtlingsproblem durch ein  „regional and international framework“ in Aussicht gestellt (Para. 39). Und der zukünftige Staat werde an Sicherheitsarrangements arbeiten müssen, die „beneficial to all parties“ seien (Para. 20) – was unter den gegebenen Machtverhältnissen nur bedeuten könne, dass Israel sich wieder polizeiliche und militärische Macht und Gewalt in dem schwachen Staatsgebilde anmaßen werde. Herauskommen könne dabei nur ein Staat ohne Souveränität, eine „entity under control“.

    Insbesondere der „New York Call“ mache deutlich, worum es eigentlich gehe: darum, die Beziehungen aller Staaten mit Israel trotz der weiter laufenden Verbrechen zu normalisieren – und eben nicht, wie es der IGH eigentlich vorschreibt, diesen Verbrechen endlich mit Konsequenzen zu begegnen. So werde die unter Bedingungen gesetzte Anerkennung, während der Genozid weitergeht, „indeed the latest stage in the ‚war against Palestine‘, as chronicled by historian Rashid Khalidi.“

    Tatsächlich wird die Lage nicht befriedet werden, welche „Lösung“ auch immer die internationale Staatengemeinschaft finden wird, um Israel die „roten Linien“ aufzuzeigen, damit es die Annexionspläne aufgibt und den Völkermord endlich beendet; erst recht nicht unter einem Übergangs-Gouverneur Tony Blair in Gaza. Trotzdem haben sich in Frankreich in den letzten Tagen auch Stimmen zu Wort gemeldet, die dafür plädieren, nicht bei der verzweifelten Analyse Rafaëlle Maisons stehenzubleiben, sondern das Beste aus der neuen Situation zu machen. Der laufende Genozid, das tägliche massenhafte Sterben, Töten und Morden, muss unbedingt sofort aufhören, und die Anerkennung erleichtert die Bereitschaft zu Interventionen. Ilyes Ramdani hält auf Médiapart der französischen Initiative zugute, dass immerhin ein enormer Druck auf die USA entstanden sei; die „Riviera“-Pläne scheinen endgültig begraben.

    Am 24. September hat Ardi Imseis, Professor für Internationales Recht an der Queen’s University in Kanada, auf Initiative der Juristin und Mitglied der französischen Nationalversammlung Gabrielle Cathala, vor französischen Abgeordneten gesprochen und einen Tag später an der Sorbonne einen Vortrag gehalten. Er vertritt eine „realistische“, „pessoptimistische“ Haltung, die darauf beharrt, dass sowohl die rechtliche Tatsache der Anerkennung als auch Tatsache der weiter bestehenden rechtlichen Verpflichtungen, die das IGH-Gutachten feststellt, für Forderungen an die Regierungen benutzt werden können. Es sei nun mal bittere Realität, dass das Überleben und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volks fast allen Staaten der Welt egal ist. Die Palästinenser:innen hätten selbst keine Ressourcen, sich gegen die Besatzung zu verteidigen. Aber gerade was die Staatlichkeit anbelangt, sieht Imseis das Glas halbvoll, wo andere es halbleer sehen. Fast unabhängig von der Situation auf dem Boden habe das Völkerrecht über die Jahre und Jahrzehnte ebenfalls eine eigene Realität geschaffen. „It is clear that today, the State of Palestine already exists as a matter of both State practice and law, with or without recognition by France and other western States.” Palästina war bereits vor Frankreichs Initiative von 160 Staaten anerkannt, wurde 2011 als vollgültiges Mitglied in die UNESCO aufgenommen, und kann Vertragspartner multilateraler Verträge sein. Gerade weil das Knüpfen von Bedingungen an die Anerkennung mit dem Völkerrecht in Konflikt stehe, könne man die Bedingungen bekämpfen. Mit der Anerkennung würde es leichter, die Staaten unter Druck zu setzen, ihr Verhältnis zu Israel zu korrigieren und auf die Besatzung, die Apartheid, die Kriegsverbrechen mit Sanktionen zu reagieren. Imsais kommt somit bei seiner Analyse der Erklärung von New York zu einem ganz anderen Schluss als Maison: Die anerkennenden westlichen Regierungen wüssten durchaus, dass Staaten souverän seien und es nicht gehe, einer Staatlichkeit Bedingungen aufzuerlegen; dementsprechend weich und letzten Endes unverbindlich seien sie formuliert. „Souvereignty is a curious thing. But as France so intimately knows (…), States have the perfect right to do whatever is not prohibited by international law.”

    Maison hatte ihren Text mit der Befürchtung geschlossen, dass die Regierungen die UN Generalversammlung unter dem Vorwand der Anerkennung eines palästinensischen „Pseudo-Staates“ durch Missachtung des IGH-Gutachtens für eine weitere Aushöhlung des Völkerrechts benutzten, ja dass hier das Völkerrecht insgesamt zu Grabe getragen werde. Imrais’ Realismus hingegen sieht „the contingency and disenfranchisement of the Palestinian Arabs“ im UN-Recht selbst verankert, zusammen mit dem „so-called two state framework“ des Teilungsplans von 1947. Mangels anderer Ressourcen könnten und müssten die Palästinenser:innen nun eben mit diesem Recht arbeiten.

    Am Montag (29. September 2025) werden Ardi Imseis und Rafaëlle Maison im Amphitheater Jean Jaurès in Paris miteinander sprechen. In Deutschland sollte man genau zuhören. Zwar hat sich auch in Deutschland der Diskurs verschoben, die Bundesregierung ist von der Netanjahu-Regierung deutlich abgerückt, man darf jetzt sogar „Genozid“ sagen, ohne als Antisemit verleumdet zu werden. Aber die, sorry, totalitäre Staatsräson und die medialen Windmühlenkämpfe in ihrem Schatten verdecken immer noch die eigentlichen Konfliktlinien. Das fruchtlose Pro und Contra deutscher Provenienz dreht sich im Grunde nur darum, ob man Israel gewähren lassen oder Israel zu seinem Glück zwingen müsse; ob das Scheitern von Oslo Israel eine Carte Blanche gibt oder ob Israel wieder auf den Weg von Oslo hin zu einem „friedlichen Zusammenleben“ gebracht werden müsse. Und ob Deutschland sich international isoliert oder ob die Welt Deutschlands Sonderweg „versteht“. Was immer noch kaum diskutierbar ist: die Anerkennungsfrage im Lichte des Scheiterns von Oslo, aus der Perspektive dessen, was rechtens und gerecht ist. Oslo war im Rückblick wohl ein schwerer Fehler – eine Appeasement-Politik, die alle wichtigen Fragen ausklammerte, sich vor völkerrechtlichen Verpflichtungen drückte und langfristig die Gewichte immer mehr zulasten der Palästinenser:innen verschob. Das betrifft die Siedlungen, das betrifft die Apartheid, das betrifft das Recht der vertriebenen Palästinenser:innen auf Rückkehr und auf Kompensation für den entwendeten Besitz.

    Deutschland hat sich nun gegen eine Anerkennung Palästinas entschieden und wird, wie immer, seinen Mangel an Verantwortungswillen mit Geldzahlungen zu kompensieren versuchen. Es zahlt aber auch noch einen anderen Preis: den der Ignoranz, im Arendtschen Sinne. Am Ende könnte sogar die These stehen, dass vielleicht tatsächlich das Völkerrecht selbst, durch den Teilungsplan, einen haltbaren Frieden unmöglich macht. Aber auch diese Diskussion wird sicherlich in Frankreich eher als in Deutschland stattfinden.

  • Die Nova Ausstellung – immersives Entertainment und trügerische Eindeutigkeit

    Die Nova Ausstellung – immersives Entertainment und trügerische Eindeutigkeit

    Naomi Klein: „How Israel Has Made Trauma a Weapon of War“, The Guardian, 5. Oktober 2024, https://www.theguardian.com/us-news/ng-interactive/2024/oct/5/israel-gaza-october-7-memorials.

    Ben Ratskoff: „Prosthetic Trauma at the Nova Exhibition: Holocaust Memory, Reenactment, and the Affective Reproduction of Genocidal Nightmares”, Journal of Genocide Research, 2. September 2025, https://doi.org/10.1080/14623528.2025.2551946.

    Es gibt keine gemeinfreien Bilder von der Immersionsleistung der „echten“ Ausstellung, aber ChatGPT schlägt dieses hier vor.

    Die Wanderausstellung „The Nova Music Festival Exhibition“ (Motto: „06:29 – The Moment the Music Stopped“) reist seit Ende 2023 durch die Welt; bisherige Stationen: Tel Aviv, New York, Los Angeles, Miami, Toronto, Boston. Wie es auf der Website der Ausstellungs- und Themenparkdesigner von Breeze Creative heißt, „rekonstruiert“ sie das Massaker palästinensischer Kombattanten unter den Teilnehmer*innen der Open Air-Trance-Party in der Nähe des Kibbutz Re’im am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 (bei dem Schätzungen zufolge 378 Menschen starben und weitere 44 als Geiseln entführt wurden), „unter Verwendung authentischer Objekte, die kurz nach den Ereignissen gesammelt wurden – darunter ausgebrannte Autos, von Kugeln durchlöcherte mobile Toiletten, zurückgelassene Campingzelte mit persönlichen Gegenständen darin und die Habseligkeiten der Ermordeten oder Entführten. Dazu kommen fesselnde visuelle Medien: Zeugenaussagen von Überlebenden, Videos und Bilder, die das Grauen festhalten.“ Produziert wurde „The Nova Music Festival Exhibition“ von den Gründern des Nova Music Festivals und den Firmen des israelischen Kulturveranstalters und Festivalgründers Yoni Feingold. Die Unterstützung durch die israelische Regierung war von Beginn an gegeben, ebenso die von Politiker*innen in den gastgebenden Städten und vieler jüdischer Organisationen. Nicht im gleichen Maße ungeteilt allerdings war und ist der Zuspruch durch große Teile der israelischen Bevölkerung und der Familien der Geiseln. Allzu durchschaubar hat man es hier mit einem Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Regierung zu tun, der von dieser selbst Hasbara genannten zionistischen Propaganda. Andererseits steht die Ausstellung in einem Kontext, in dem Propaganda von Aufklärung, Dokumentation und seriöser Recherche oft nicht mehr leicht zu unterscheiden sind.

    Jetzt macht „The Nova Music Festival Exhibition“ in Berlin-Tempelhof Station, im ehemaligen Flughafengebäude, unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner, wie Anfang September bekannt wurde. Diese Ankündigung und die noch zu erwartende mediale Begleitung lässt es angeraten erscheinen, sich mit der bisherigen Geschichte, den ideologischen Implikationen und kuratorischen Strategien dieses Unternehmens genauer zu beschäftigen. Dafür sind zwei Texte besonders empfehlenswert: „How Israel Has Made Trauma a Weapon of War“ von Naomi Klein, letztes Jahr erschienen im Guardian, und der Anfang September dieses Jahres veröffentlichte Aufsatz „Prosthetic Trauma at the Nova Exhibition: Holocaust Memory, Reenactment, and the Affective Reproduction of Genocidal Nightmares” des Erinnerungskultur- und Geschichtspolitik-Forschers Ben Ratskoff. Klein wie Ratskoff situieren das Ausstellungsprojekt im weiteren Kontext der geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Aktivitäten in Reaktion auf den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 innerhalb, aber auch außerhalb Israels. Theaterstücke, Filme, eine Fernsehserie, VR-Onlinevideos (wie die “Gaza Envelope 360 tour”) oder thematische Reisen im dark tourism-Fach überführen die traumatischen Ereignisse in unterschiedliche Formen viszeral-immersiver Unterhaltung. Die meisten dieser Produkte legen es darauf an, die Nutzer*innen in das Geschehen an diesem Tag emotional hineinzuziehen. Die Identifikation mit den Opfern, das Sich-Hineinversetzen in ihr Leiden und Sterben ist das primäre Ziel. Gleichzeitig ist der Aufwand an kleinteiliger dokumentarischer Aufarbeitung oft sehr eindrucksvoll, und es gibt auch differenzierte Versuche, auf die Ereignisse dieses Tages und dessen Nachwirkungen zu reagieren. Klein vermisst allerdings durchweg, dass die in den vergangenen Jahrzehnten betriebene Forschung zur „Ethik der Erinnerung an reale Gräueltaten“ und deren eminent politischer Dimension bisher auch nur ansatzweise zur Kenntnis genommen worden wäre. Stattdessen lege es die Memorialindustrie darauf an, den „Unterschied zwischen dem Herstellen einer emotionalen Verbindung und dem bewussten Versetzen von Menschen in einen Zustand der Schockstarre und Traumatisierung“ einseitig aufzulösen, nämlich in Richtung „Immersion“: „Zuschauer*innen und Teilnehmer*innen wird die Möglichkeit geboten, sich in den Schmerz anderer hineinzuversetzen, basierend auf der Leitannahme, dass es umso besser für die Welt ist, je mehr Menschen das Trauma des 7. Oktober so erleben, als wäre es ihr eigenes“. Eine weitere Differenz sei die zwischen dem „Verstehen eines Ereignisses, welches sowohl die analytischen Fähigkeiten des Intellekts als auch das Bewusstsein des eigenen Selbst bewahrt“, und dem „Gefühl, das Ereignis persönlich zu durchleben“. Letzteres könne – mit einem Begriff der Historikerin Alison Landsberg (Prosthetic Memory : the Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture) und der Soziologin Amy Sodaro (Exhibiting Atrocity: Memorial Museums and the Politics of Past Violence) – „prosthetic trauma” genannt werden.

    Ben Ratskoff arbeitet ebenfalls mit dem Begriff des „prothetischen Traumas”. Seine akribische Beschreibung und Analyse der Nova-Ausstellung mündet in einem Fazit, dass Kleins Kritik an der geschichtspolitischen Instrumentalisierung des 7. Oktober 2023 ebenso teilt wie ihre Einwände gegen die Zusammenbrüche reflektierender Distanz im Modus der Immersion: „Indem sie die Schmerzen und Leiden realer Opfer als simulierte Erfahrung für den öffentlichen Konsum anbietet, bestätigt die Nova-Ausstellung die Befürchtung, dass die Nachstellung als diskursive Form und Ausstellungsstrategie die kritische Distanz zunichte macht, die es für ethische Reflexion und kontextuelles Verständnis braucht; und dass sie gleichzeitig destruktive (und selbstzerstörerische) narrative Panikmache und existenzielle Ängste schürt.“ Ratskoff betont darüber hinaus, dass solche Bearbeitung des Gedenkens der Gräuel dazu tendiere, die genozidalen Alpträume eher zu reproduzieren als zu verhindern, insbesondere, wenn Rhetorik und Formate des Holocaust-Gedenkens auf die Ereignisse des 7. Oktober 2023 übertragen würden: „Tropen und Muster, die aus der Erinnerung an den Holocaust und dem Gedenkmuseum stammen, bilden einen mächtigen Apparat emotionaler Identifikation, der das Bildliche und das Reale, die Erinnerung und die Wirklichkeit verschwimmen lässt.“

    Überall dort, wo individuelle und kollektive Gewaltereignisse und -erfahrungen institutionell „erinnert“ werden, tut sich seit Jahrzehnten eine Schere auf. Staatliche wie privatwirtschaftliche, oft auch – wie im Fall der Nova-Ausstellung – als public-private partnership betriebene Unternehmen (trans-)nationalen Gedenkens und politischer Bildung sind wie hin- und hergerissen zwischen, vereinfacht gesagt: Didaktik und Aufklärung einerseits und Emotionalisierung und Identifikation andererseits. Immer häufiger fällt die Entscheidung dabei zugunsten der Option Immersion aus. Seit in renommierten historischen Museen wie dem Imperial War Museum in London die Schützengräben des Ersten Weltkriegs und die Bombennächte des Blitzkriegs wie Geisterbahnen inszeniert werden, glaubt kaum eine große Institution noch, ohne gamifizierte Ausstellungskonzepte auskommen zu können. Längst sehen sich gerade die dem Holocaust gewidmeten Museen und Gedenkstätten, allen voran Yad Vashem in Jerusalem, mit diesen Erwartungen an immersives Nacherleben des Traumas konfrontiert und geben ihnen nach.

    Auch unabhängig von dem besonders aufgeladenen Anlass des 7. Oktobers 2023 ließe sich daher fragen: Welche Funktionen und Effekte haben die auf Immersion und Re-enactment zielenden Methoden und Technologien, die zunehmend in unterschiedlichen erinnerungskulturellen, pädagogischen und therapeutischen Zusammenhängen eingesetzt werden? Wie wirkt sich der so herbeigeführte und eingeübte Zusammenbruch von (kritischer) Distanz gesellschaftlich aus? Wann geht das Identifikationsangebot in Propaganda über, wann Empowerment in Mobilisierung? Die Immersivierung von Geschichte und Politik, wie sie (nicht nur) mit der Nova-Ausstellung betrieben wird, produziert trügerische Eindeutigkeiten. Immersion ist zum default mode des Gedenkens geworden, zur Formel einer politischen Kommunikation, die Partizipation auf Passivität reimt, die agitiert, indem sie das Trauma inszeniert. Jetzt wird „The Nova Music Festival Exhibition“ also in Berlin besucht werden können. Wo, wenn nicht in dieser Stadt, böte sich Gelegenheit zu bedenken, dass die Ästhetisierung von Gewalt und die Instrumentalisierung von Traumata in der Vergangenheit schon einmal verheerend waren?         

  • Japanische Regierung unterwirft den Wissenschaftsrat Japans

    Japanische Regierung unterwirft den Wissenschaftsrat Japans

    Sitz des Wissenschaftsrats in Tokio, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22331698

    Der Wissenschaftsrat Japans (SCJ) wurde 1949 als nationale Akademie Japans gegründet und besitzt traditionell sehr viel Einfluss. Obwohl er eine staatliche Einrichtung ist, arbeitet er unabhängig von der Regierung und beansprucht Autonomie in seiner Verwaltung und seinen Aktivitäten.

    Seine Arbeitsprinzipien sind das Ergebnis der bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, als Japan die Wissenschaft für militärische Zwecke mobilisierte. Vor diesem historischen Hintergrund wurde der SCJ „im Konsens der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft mit dem Auftrag gegründet, in Abstimmung mit den weltweiten akademischen Gemeinschaften zum friedlichen Wiederaufbau Japans, zum Wohl der menschlichen Gesellschaft und zum akademischen Fortschritt beizutragen“, wie es in der Präambel des Gesetzes über den SCJ heißt. Die Aufgaben des SCJ sind: die Erörterung wichtiger Fragen der Wissenschaft und die Unterstützung bei deren Umsetzung; die Förderung und Verbesserung der Koordinierung wissenschaftlicher Forschung; die Beantwortung von Anfragen der Regierung zu akademischen und politischen Fragen, die einer besonderen Prüfung durch wissenschaftliche Expert:innen bedürfen; sowie Abgabe wissenschaftlicher Empfehlungen und Vorschläge an die japanische Regierung und Gesellschaft.

    Seit ihrer Gründung hat die SCJ eine aktive Rolle in der Politik gespielt, beispielsweise durch die Bereitstellung von Hunderten von Berichten und Empfehlungen für die Öffentlichkeit. Sie besteht aus 210 Wissenschaftler:innen, die jeweils für sechs Jahre ernannt werden, und umfasst alle akademischen Bereiche. Getreu seinem Spitznamen „Parlament der Wissenschaftler“ wurden die Mitglieder ursprünglich von japanischen Wissenschaftler:innen gewählt. Seit Reformen in den 1980er und 2000er Jahren, auf Initiative der Regierung, gilt ein Kooptationssystem. Dabei nominieren die derzeitigen Mitglieder die neuen Mitglieder, so wie es in den meisten nationalen Akademien üblich ist. Zwar werden die neuen Mitglieder durch den Premierminister ernannt, doch war dieses Verfahren lange Zeit nur eine Formalität, vergleichbar mit der Ernennung des britischen Premierministers durch den britischen Monarchen auf Vorschlag des Parlaments. Dieser Konsens wurde von allen japanischen Regierungen eingehalten, bis der japanische Premierminister im Jahr 2020/2021, Yoshihide Suga, ihn brach und sich plötzlich weigerte, die neuen Kandidaten zu ernennen, die 2020 vom SCJ nominiert worden waren.

    Nun droht ein neues Gesetz den Charakter des SCJ ganz zu verändern und ihn vollständig der Regierung unterzuordnen. Die japanische Regierungskoalition, bestehend aus der mitte-rechts Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der buddhistisch-konservativen Partei Komeito, legte am 7. März 2025 den Entwurf für ein neues Gesetz über den SCJ vor, das am 11. Juni verabschiedet wurde. Sein Hauptziel: die „Inkorporierung”, was im japanischen Kontext die Umwandlung des SCJ in eine Gesellschaft, eine Art GmbH, bedeutet. Man könnte meinen, dass eine Gesellschaft mehr Unabhängigkeit gewährt als andere Organisationsformen. Der Gesetzentwurf sieht jedoch zahlreiche Überwachungsmechanismen vor, die Eingriffe und Kontrollen durch die Regierung ermöglichen und die mit der „Rechenschaftspflicht gegenüber den Steuerzahlern” begründet werden. Damit soll dem SCJ seine Autonomie genommen und er zu einer der Regierung unterstellten Agentur gemacht werden.

    Der Exekutivausschuss des SCJ hat fünf Anforderungen genannt, die für jede nationale Akademie unverzichtbar seien: der Status als Institution, die das Land in akademischer Hinsicht repräsentiert; die Verleihung öffentlicher Qualifikationen zu diesem Zweck; eine stabile finanzielle Grundlage durch nationale Finanzausgaben; Unabhängigkeit von der Regierung in Bezug auf ihre Tätigkeiten; sowie Autonomie und Unabhängigkeit bei der Auswahl ihrer Mitglieder. Als Reaktion auf den Gesetzentwurf verabschiedete die Generalversammlung des SCJ eine Resolution und gab eine Erklärung ab, in der sie ihre ernsthafte Besorgnis zum Ausdruck brachte und wesentliche Änderungen durch den Gesetzgeber forderte.

    Hintergrund zur Einführung des Gesetzentwurfs

    Die aktuelle Krise lässt sich nicht ohne den Konflikt im Jahr 2020 und die Weigerung von Premierminister Suga verstehen, die nominierten neuen Kandidaten entgegen dem Konsens des Gesetzes zu ernennen. Als die Tageszeitung der Kommunistischen Partei, Akahata, die Nachricht veröffentlichte, protestierten Hunderte von akademischen Vereinigungen sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und forderten Herrn Suga auf, seine Entscheidung zurückzunehmen und zu erklären, warum er die Ernennung verweigere. Der Internationale Wissenschaftsrat unterstützte sie und sandte ein offizielles Schreiben, in dem er seine Besorgnis gegenüber dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs in Japan zum Ausdruck brachte. Suga und seine Nachfolger weigerten sich jedoch weiterhin, die Entscheidung zu erklären, mit der Begründung, es handele sich um „eine Personalangelegenheit“.

    Unterdessen wechselte die regierende LDP die Argumentation und tat so, als ob die bisherige Organisationsform des SCJ das Problem gewesen wäre. Im Dezember 2020 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe innerhalb der LDP einen Vorschlag, der die Umwandlung des SCJ in eine Gesellschaft vorsah, um angeblich seine Unabhängigkeit von der Regierung zu gewährleisten. Als die Regierung jedoch im Dezember 2022 die Überarbeitung des Gesetzes über den SCJ in Angriff nahm, begann der SCJ sich zu wehren. Seine Generalversammlung forderte die Regierung auf, die Überarbeitung auszusetzen und ein Forum für offene Konsultationen einzurichten, um das gesamte japanische Hochschulsystem umfassend und grundlegend zu überprüfen (siehe hier und hier). Daraufhin gab die Regierung den Gesetzentwurf vorübergehend auf.

    Sie verfolgte jedoch weiter den Plan, den SCJ umzustrukturieren. Im August 2023 richtete sie einen „Beratungsausschuss” zur Rolle des SCJ im Kabinettsbüro ein, einem dem Premierminister unterstehenden Exekutivorgan, das ihn und die anderen Minister unterstützt. Der Ausschuss bestand aus Vertretern regierungsnaher akademischer Kreise, des Kabinettsbüros, der Wirtschaft, aus einigen ehemaligen Mitgliedern des SCJ sowie weiteren Personen. Der Präsident des SCJ wurde zu den Beratungen eingeladen, jedoch nicht als offizielles Mitglied. Der Ausschuss veröffentlichte am 21. Dezember 2023 einen Zwischenbericht, der vorschlug, den SCJ als staatliche Institution aufzulösen und in eine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit umzuwandeln. Auf der Grundlage dieses Berichts erklärte der Staatsminister für Sonderaufgaben am 22. Dezember 2023, dass die Regierung nun die “Inkorporierung” des SCJ beabsichtige.

    Daraufhin gab die SCJ-Generalversammlung am 23. April 2024 wieder eine Erklärung ab, in der sie erneut ihre Besorgnis zum Ausdruck brachte. Ehemalige SCJ-Präsidenten sowie Dutzende von akademischen Gesellschaften und Verbänden veröffentlichten eine Erklärung, die die Regierung ein weiteres Mal aufforderte, die Vorlage des Gesetzentwurfs zurückzuziehen. Die Regierung hielt jedoch diesmal an ihrer Entscheidung fest, und der Gesetzentwurf wurde schließlich im März 2025 der Legislative vorgelegt und angenommen.

    Vermutete Ziele des Gesetzentwurfs – Schatten des militärisch-industriellen Komplexes

    Warum besteht die japanische Regierung darauf, den SCJ in eine Gesellschaft umzuwandeln? Die offizielle Begründung lautet nach wie vor, „die Unabhängigkeit des SCJ zu stärken”. Viele vermuten jedoch, dass das eigentliche, versteckte Ziel des Gesetzentwurfs darin bestehe, den militärisch-industriellen Komplex in Japan zu unterstützen und zu fördern.

    Die japanische Regierung verfolgt seit einigen Jahrzehnten eine „Wissenschafts-, Technologie- und Innovationspolitik” (STI) mit dem Ziel des Wirtschaftswachstums. Die wichtigste Organisation zur Förderung dieser Politik ist der Rat für Wissenschaft, Technologie und Innovation (CSTI), eine Agentur im Kabinettsbüro unter dem Vorsitz des Premierministers. Der SCJ ist hier längst marginalisiert und hat keine Macht mehr, Wissenschafts-, Technologie- und Innovationspolitik zu bestimmen. Aber hat er immer noch einen starken Einfluss auf den Verhaltenskodex japanischer Wissenschaftler:innen. Die Empfehlungen des SCJ an die Regierung werden nach wie vor öffentlich wahrgenommen und haben Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Regierung erwartet vom SCJ, dass er bei ihrer STI-Politik mitwirkt und diese umsetzt, ohne sich in deren Ausrichtung und Inhalt einzumischen. Um das zu erreichen, erscheint es der Regierung unerlässlich, den Einfluss der Industrie und der Wirtschaft auf den SCJ zu stärken. Die Begründung dafür lautet, dass die Wissenschaft einen größeren Beitrag zu dem leisten solle, was euphemistisch als „Innovation” bezeichnet wird. Nicht nur die Regierung, auch die Wirtschaft fordert seit langem die Inkorporierung des SCJ. Bereits 2015 schlug die Japan Business Federation (Keidanren) vor, den SCJ zu „diversifizieren”, und meinte damit, dass die Zahl der Forscher aus der Industrie, der Manager und Rechtsanwälte im SCJ erhöht werden müsse.

    Hinter Wirtschaftswachstum und „Innovation“ erscheint als weiterer, versteckter mutmaßlicher Zweck der Inkorporierung, Hindernisse für die Förderung der militärischen Forschung zu beseitigen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die meisten japanischen Wissenschaftler:innen aufgrund der verhängnisvollen Rolle der Wissenschaft in dem Angriffskrieg nie wieder an militärischer Forschung beteiligt sein. Die Tatsache, dass die seit 1947 geltende Verfassung Japans Krieg und militärischer Gewalt eine Absage erteilt, stützt die Abneigung japanischer Wissenschaftler:innen gegen militärische Forschung. Der SCJ hat sich seit seiner Gründung stets klar gegen wissenschaftliche Forschung für Kriegs- und militärische Zwecke ausgesprochen, zuletzt in seiner Erklärung zur Forschung für militärische Sicherheit im Jahr 2017.

    Vor dem Hintergrund der „Veränderungen im Sicherheitsumfeld” in den letzten zehn Jahren hat jedoch die Tendenz zur Zusammenarbeit zwischen Militär und Wissenschaft zugenommen. Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), die 2013 vom japanischen Kabinett ohne wesentliche Diskussion im Parlament verabschiedet wurde, betonte die Stärkung der technologischen Fähigkeiten, einschließlich der sogenannten „Dual-Use-Technologien”, und befürwortete die Zusammenarbeit zwischen Industrie, Wissenschaft und Regierung. Die neue NSS von 2022 und das Verteidigungsaufbauprogramm haben diese Politik weiter vorangetrieben. Einflussreiche Wirtschaftskreise wie Keidanren fordern unablässig, dass die Regierung die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Wissenschaft im Bereich der Militärtechnologieforschung fördern sowie die Verteidigungsfähigkeit und den Export von Verteidigungsgütern stärken solle.

    Zur Umsetzung der NSS richtete die Agentur für Beschaffung, Technologie und Logistik (ATLA), eine externe Behörde des Verteidigungsministeriums, 2015 einen Forschungsfonds für Verteidigungstechnologien ein. Viele Wissenschaftler:innen waren schon damals über diese neue Politik besorgt. Der SCJ bildete eine Arbeitsgruppe, um die möglichen Auswirkungen des Forschungsfonds der ATLA auf die akademische Freiheit und die Autonomie der Universitäten zu untersuchen. In ihrer Erklärung zur Forschung im Bereich der militärischen Sicherheit aus dem Jahr 2017 wies der SCJ darauf hin, dass der Fonds der ATLA „aufgrund dieser staatlichen Eingriffe in die Forschung viele Probleme aufweist”. Er empfahl außerdem, dass Universitäten und akademische Einrichtungen ein System einrichten sollten, um Forschungsvorhaben, die für die militärische Sicherheitsforschung genutzt werden können, kritisch auf ihre technologische und ethische Angemessenheit zu überprüfen. Die Erklärung bekräftigte auch frühere Stellungnahmen des SCJ zur Militärforschung (aus den Jahren 1950 und 1967). Obwohl die Erklärung nicht direkt ein Verbot der Militärforschung forderte, war sie für die Regierung wie für rechte Parteien und Politiker sicherlich frustrierend. In ihren Augen ist der SCJ ein ernsthaftes Hindernis bei der Förderung der militärtechnologischen Forschung. In der parlamentarischen Beratung des Gesetzentwurfs antwortete ein für das Kabinettsbüro zuständiger Minister einem rechtspopulistischen Abgeordneten, dass der Gesetzentwurf „den Ausschluss von Mitgliedern ermöglichen würde, die bestimmte ideologische oder parteipolitische Positionen wiederholt vertreten”.

    Ähnliche Konstellationen finden sich nicht nur in Japan, sondern weltweit. In ganz Europa und auch in Deutschland wächst der Druck auf Universitäten, sich an militärischer Forschung zu beteiligen. Die Europäische Kommissionhat die Ausgaben für Dual-Use-Forschung als Reaktion auf ein „bedrohlicheres geopolitisches Umfeld” erhöht. Während deutsche Universitäten und Institute lange Zeit dem Grundsatz der Beschränkung der Forschung auf friedliche Zwecke treu geblieben sind, möchten Teile der deutschen Regierung, dass sie diesen Grundsatz nun aufgeben.

    Inkorporation als Mittel zur Kontrolle der Wissenschaft

    In Japan beschränkt sich die „Inkorporation” nicht nur auf den SCJ. Die nationalen Universitäten wurden bereits 2004 im Rahmen der New-Public-Management-Reformen inkorporiert, und schon seit zwei Jahrzehnten haben japanische Wissenschaftler:innen mit den damit einhergehenden Budgetkürzungen und verstärkten Eingriffen der Regierung zu kämpfen. Die Universitäten stehen vor zahlreichen Problemen. So können sie beispielsweise ausgeschiedene Lehrkräfte nicht ohne weiteres ersetzen, sind auf Teilzeitkräfte angewiesen, das Forschungsbudget für Lehrkräfte wurde gekürzt und die Studiengebühren wurden erhöht. Die Autonomie der Universitäten wurde kontinuierlich eingeschränkt. Sie sind verpflichtet, alle sechs Jahre einen mittelfristigen „Plan für Management, akademische und pädagogische Leistungen“ sowie detaillierte Schlüsselzielindikatoren (KGIs) zu erstellen. Da das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie (MEXT) den Plan und die KGIs überprüft und das Ergebnis dieser Überprüfung direkt mit den Zuschüssen verbunden ist, von denen die Universitäten abhängig sind, beugen sich die Universitäten scheinbar freiwillig den Vorgaben und der Politik der Regierung.

    Darüber hinaus werden die Fakultäten immer weniger in die Entscheidungsfindung einbezogen. Die Macht konzentriert sich auf kleine Gruppen von Personen, hauptsächlich die Universitätspräsidenten und Mitglieder der Exekutivkomitees, zu denen auch Führungskräfte von Unternehmen und ehemalige MEXT-Beamte gehören. Früher wurde der Präsident durch Abstimmung der Professor:innen gewählt, heute entscheidet ein „Präsidentenauswahlkomitee”, das sich aus Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Universität zusammensetzt, wer Präsident wird. Der Fakultätsrat wurde aller Entscheidungsbefugnisse, einschließlich der Einstellung und Beförderung von Fakultätsmitgliedern, beraubt und ist zu einem reinen Verbindungsgremium degradiert worden.

    Infolgedessen verschlechtert sich Japans Position in der internationalen Wissenschaft, gemessen an Kriterien wie der Anzahl und Qualität der in internationalen Fachzeitschriften veröffentlichten Artikel. Studierende, die die aktuelle Situation der Universitäten und die prekäre Stellung der Professor:innen erleben, finden bei der Wahl ihres Berufswegs die japanische Wissenschaft nicht attraktiv. Die Zahl der Studierenden, die sich für ein Doktoratsstudium einschreiben, ist rückläufig. Ein ehemaliger Minister des MEXT, Dr. Akito Arima, Kernphysiker und ehemaliger Präsident der Universität Tokio, gab 2020 in einem Zeitungsinterview zu, dass die „Inkorporierung der nationalen Universitäten ein Fehler war”. Viele Wissenschaftler:innen äußern die Befürchtung, dass mit der Inkorporierung des SCJ nun derselbe Fehler wiederholt wird.

    Gegen die Krise der akademischen Freiheit und die Förderung der Militärforschung

    Besorgte Wissenschaftler:innen und Bürger:innen haben sich gegen den Gesetzentwurf eingesetzt. Sie veranstalteten Massenkundgebungen rund um das Parlament und lobbyierten bei Abgeordneten. Rund 65.000 Menschen haben eine Online-Petition unterzeichnet. Mehr als hundert wissenschaftliche Gesellschaften und Vereinigungen, Bürgerorganisationen, Gewerkschaften und Anwaltsverbände haben Erklärungen gegen den Gesetzentwurf abgegeben. Als Folge der Proteste stimmten im Repräsentantenhaus nicht nur linke und linksliberale Parteien, sondern auch mitte- und mitte-rechts-Parteien, die ursprünglich unentschlossen oder für den Gesetzentwurf waren, gegen ihn. Nur die Regierungskoalition und eine rechtspopulistische Partei stimmten dafür. Das Gesetz wurde jedoch ohne Änderungen am 11. Juni im Oberhaus verabschiedet. Jetzt wird an den neuen Regeln für die Mitgliedschaft und die Aktivitäten des SCJ gearbeitet. Der „neue“ SCJ wird am 1. Oktober 2026 seine Arbeit aufnehmen.

    Das Gesetz ging durch, auch weil der Regierungsvertreter während der parlamentarischen Beratungen den Oppositionsparteien wiederholt versichert hatte, dass die Regierung die Unabhängigkeit und Autonomie des SCJ respektieren werde. Im Repräsentantenhaus und im Oberhaus des japanischen Parlaments wurden 11 bzw. 14 Zusatzbeschlüsse gefasst. Diese rechtlich nicht bindenden Beschlüsse fordern die Regierung auf, die Unabhängigkeit und Autonomie des SCJ zu berücksichtigen und angemessene finanzielle Unterstützung zu gewähren. Die Regierung und die Regierungskoalition konnten die Kampagne gegen den Gesetzentwurf und die vielen Gegenstimmen nicht ignorieren. Das zeigt: Wir sind nicht machtlos. Unter Berufung auf die gegebenen Zusicherungen und Resolutionen ist es weiterhin unerlässlich, dass Wissenschaftler:innen und Bürger:innen die Regierung und den SCJ genau beobachten und sich immer einmischen, wenn die Unabhängigkeit der Wissenschaft angegriffen wird. Darüber hinaus muss eine neue Kampagne sich darum bemühen, die ursprüngliche Autonomie des SCJ als nationale Akademie wiederherzustellen.

    Schließlich ist es von entscheidender Bedeutung, Vorkehrungen gegen eine weitere Verstrickung der Wissenschaft in die Militärforschung zu treffen. Am Tag nach der Verabschiedung des Gesetzes kündigte das Verteidigungsministerium die Einrichtung einer neuen Organisation an, des Ausschusses für Verteidigungswissenschaft und -technologie, dessen Aufgabe es ist, das Ministerium bei der Planung von Maßnahmen im Bereich Wissenschaft und Technologie zu unterstützen. Acht der 16 Vorstandsmitglieder sind Universitätsprofessoren. Es muss verhindert werden, dass der „neue“ SCJ die Politik des „alten“ SCJ einfach umkehrt. Wenn wir dabei scheitern, wird der Zwang zu militärischer Forschung in der Wissenschaft weiter zunehmen.

  • Verweigerung der Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen 

    Verweigerung der Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen 

    Erklärung „Verweigerung aus Gewissensgründen. Für Menschenrechte und die Einhaltung des internationalen Rechts“, https://uppsaladeclaration.se/germany/.

    Während das systematische und gezielte Aushungern der Bevölkerung in Gaza den Genozid an den Palästinenser:innen, mit westlicher und gerade auch deutscher Unterstützung, für immer mehr Menschen zu einer unleugbaren Tatsache macht, ist die Frage eines Boykotts Israels gerade in Deutschland immer noch tabuisiert. Die sogenannte BDS-Bewegung, begründet u.a. von der „Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel“ (PACBI), wurde 2004 als Antwort auf das Scheitern von Oslo und die Frage nach verbleibenden gewaltlosen Handlungsoptionen gegen Besetzung und Entrechtung ins Leben gerufen. Sie gilt in Deutschland pauschal als antisemitisch und wird vom Verfassungsschutz in Teilen als „extremistischer Verdachtsfall“ beobachtet. Aber jetzt kommt selbst die Bundesregierung nicht mehr drum herum, sich mit Sanktionen und der Aussetzung der Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen zu beschäftigen. Immer mehr internationale Wissenschaftler:innen setzen zudem ihre Unterschriften unter Briefe, die ihre Regierungen und ihre Arbeitgeber dazu auffordern, die Konsequenzen der Situation in Gaza für die wissenschaftliche Arbeit nicht mehr zu ignorieren – prominent auch der Brief von inzwischen über 1000 Physiker:innen und Naturwissenschaftler:innen an die Leitung der CERN.

    Im Frühsommer haben Wissenschaftler:innen in und aus Schweden die sogenannte Uppsala-Erklärung veröffentlicht, in der sie sich aus Gewissensgründen dazu verpflichten, nicht mehr mit solchen israelischen Institutionen zusammenzuarbeiten, die sich zu Komplizen der illegalen Besetzung, der Apartheid, des Genozids und anderer Völkerrechtsverbrechen gemacht haben. Diese Erklärung hat inzwischen weit über 2.000 Unterschriften.

    Die deutsche Version wurde nun auf derselben Website veröffentlicht und ist mit der schwedischen in Form identisch und vielen Formulierungen sehr ähnlich. Sie begründet die Entscheidung zum wissenschaftlichen Boykott israelischer Institutionen ebenfalls sehr ausführlich mit der überwältigenden Empirie, die die Verwicklung der israelischen Universitäten in die Verbrechen belegt, und formuliert die gleichen Grundsätze:

    „1. Wir werden keine Kooperationen mit dem Staat Israel oder mit seinen mitverantwortlichen Institutionen unterstützen.

    2. Wir werden keinen institutionalisierten Austausch mit israelischen Institutionen, die mitverantwortlich sind, fördern oder öffentlich mittragen.

    3. Wir werden uns nicht an Aktivitäten beteiligen, die vom Staat Israel oder seinen mitverantwortlichen Institutionen organisiert und/oder (mit-)veranstaltet werden.“

    Darüber hinaus geht sie auch auf die deutsche Situation ein, nennt Beispiele, wie an deutschen Universitäten die Verpflichtung zur Einhaltung des Völkerrechts missachtet wird, welche institutionellen Verbindungen es gibt, und wie die bestehende Zusammenarbeit sogar noch ausgebaut werden soll. Sie stellt am Ende ausdrücklich klar: „Wir rufen explizit nicht dazu auf, die Beziehungen zu einzelnen israelischen Wissenschaftler*innen abzubrechen. Vielmehr lehnen wir die Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen, die an illegaler Besatzung, Apartheid, Völkermord und anderen Verstößen gegen das Völkerrecht beteiligt sind, aus Gewissensgründen entschieden ab.“

    Ich habe selbst eine Zeit lang gezögert, die Erklärung zu unterschreiben: zum einen, weil ich auch mit nicht-israelischen Institutionen, die an Völkerrechtsverbrechen beteiligt sind, keine Kooperation eingehen möchte und mir lieber eine grundsätzliche Forderung nach universitären Menschenrechtsselbstverpflichtungen zu eigen machen würde. So wie die Human Rights Policy der Universität Gent in den Niederlanden: „In a nutshell: Ghent University does not cooperate with organisations involved in serious or systematic human rights violations, nor does it want projects to lead directly or indirectly to human rights violations.” Zum anderen kann ich mir ethische Zwickmühlen vorstellen, in denen man nicht darum herumkommt, auch unerwünschte Kooperationen einzugehen. Jetzt geht es mir aber vor allem darum, auf deutsche Institutionen, die deutsche Regierung und die deutsche Öffentlichkeit Druck auszuüben, jede militärische und polizeiliche Zusammenarbeit mit einem von Rechtsradikalen geführten Staat sofort einzustellen, und palästinensische Leben und das Leben der Geiseln zu retten. Deshalb unterschreibe ich.

    https://uppsaladeclaration.se/germany/.

    Hier noch ein Netzfund von der Website der Bar-Ilan University:

    blibli
    screenshot of Bar-Ilan University’s website, https://www.biu.ac.il/en/article/583601
  • Die RIAS-Berichte zu antisemitischen Vorfällen unter der Lupe

    Die RIAS-Berichte zu antisemitischen Vorfällen unter der Lupe

    Jewish Voices for Peace

    Am 4. Juni 2025 hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) seinen Jahresbericht 2024 in der Bundespressekonferenz vorgestellt. RIAS ist eine Organisation, die in Deutschland ein kontinuierliches Monitoring antisemitischer Vorfälle durchführt, auf dessen Grundlage staatliche Stellen und die Politik Maßnahmen zur Antisemitismus-Bekämpfung ergreifen. Entstanden ist sie aus den „antisemitismuskritischen“ Kontexten einer stark opferzentrierten Rassismusbekämpfung der 2000er Jahre, als sich die Amadeu Antonio Stiftung und andere antideutsche Player von machtkritischen Analysen verabschiedeten, den Versuchungen der Staatsnähe erlagen und begannen, sich an der staatlichen Instrumentalisierung des Opferbegriffs zu beteiligen.

    Laut Bericht und Statistik des RIAS 2024 sind die Zahlen antisemitischer Vorfälle in Deutschland dramatisch angestiegen, wie auch schon in den Vorjahren. Es dürfte wohl niemand bezweifeln, dass der Antisemitismus, auch im engsten Verständnis – als Feindschaft gegen Juden, weil sie Juden sind – zugenommen hat und weiter zunimmt. Nichts wäre nötiger als eine sorgfältige Statistik, eine zuverlässige Datenbasis und ein entsprechendes Monitoring, um besser zu verstehen, welche Formen, Gründe, Ausmaße und Orte der heutige Antisemitismus hat, in welchem politischen Lager auch immer, und um ihn wirksamer zu bekämpfen.

    RIAS arbeitet jedoch mit Prämissen und unter Voraussetzungen, die mit guter wissenschaftlicher Praxis in Konflikt stehen – und daran ändert auch nichts, wenn der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz das nicht erkennt. Der Verband bedient sich einer Antisemitismus-Definition – der IHRA-Arbeitsdefinition –, die schon seit Jahren rechtlich und wissenschaftlich zumindest umstritten ist, wenn nicht sogar als untauglich abgelehnt wird, weil sie Dinge vermischt, wo man differenzieren müsste. Statt in dubio pro reo gilt für den RIAS beim „israelbezogenen Antisemitismus” der Grundsatz, dass dessen Feststellung auch bei Zweifel gerechtfertigt ist – im angeblichen Interesse seiner tatsächlichen, vermeintlichen oder potentiellen Opfer. Er setzt jede Form von Antizionismus nahezu umstandslos mit Antisemitismus gleich, enthistorisiert und essentialisiert ihn und legt deutungsoffene und diskussionsbedürftige Aussagen auf zum Teil abenteuerliche Lesarten fest. Und er reflektiert nicht, dass er mit der Entscheidung darüber, wer oder was antisemitisch ist, Macht ausübt und Lebensläufe zerstören kann, ohne dass er die Möglichkeit einer Berufung einräumt.

    Ich zitiere hier aus dem Jahresbericht 2024 nur zwei Passagen, die aus meiner Sicht zeigen, wie unverantwortlich RIAS mit dieser Macht umgeht und wie wenig er sich um Empirie und Genauigkeit schert:

    „Knapp 7% aller [antisemitischer] Versammlungen ordnete RIAS einem links-antiimperialistischen Hintergrund zu. Anlässlich des sogenannten Nakba-Tages – eines palästinensischen und islamistischen Kampagnentages gegen die israelische Staatsgründung – veranstaltete im Mai in Erfurt die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) eine Versammlung. In einem Redebeitrag hieß es: ‚Israel ist nicht mehr das Land der verfolgten Juden, sondern eine Großmacht […]. Israel ist zum Täter geworden.‘ Im Sinne einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr wird hier Jüdinnen_Juden abgesprochen, noch Opfer der Schoa zu sein, und stattdessen eine vergleichbare Täterschaft behauptet. Mit Bezug auf den Vorwurf, Israel begehe einen Genozid, wurde die Schoa relativiert: ‚Wenn man die Definition des Völkermordes so eng nimmt, dass das gesamte Volk vernichtet wird, dann gab es auch keinen Völkermord gegen die Juden.‘ RIAS nimmt Genozid-Vorwürfe gegen Israel als antisemitische Vorfälle gemäß der IHRA-Arbeitsdefinition auf, wenn sie das jüdische Recht auf Selbstbestimmung abstreiten, wenn sie Symbole oder Bilder verwenden, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen, oder wenn sie einen Vergleich der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten darstellen.“ (S. 23)

    Die Selbstwidersprüche und Tatsachenverdrehungen liegen auf der Hand: 1) Der Nakba-Tag mag in manchen Kontexten missbraucht werden, doch die Nakba – die Vertreibung und Flucht von über 700.000 arabischen Palästinenser:innen im Zuge der Staatsgründung Israels und des Palästinakrieges (1947–1949) – ist passiert, und daran darf und soll erinnert werden. 2) Dass Israel als Staat, und nicht nur mit seiner gegenwärtigen Regierung, eine Großmacht ist und seit 1967 mit einer völkerrechtswidrigen Besatzung auch „Täter“, ist eine Tatsache. 3) Der inkriminierte Satz relativiert die Schoah nicht, sondern sagt ja gerade, dass es sich dabei um einen Völkermord handelte. Er schließt auch nicht aus, dass sie mehr war als ein Völkermord, dass sie sogar singulär war. 4) Man mag die Äußerungen nicht besonders feinfühlig finden, doch streiten sie weder ein jüdisches Recht auf Selbstbestimmung ab, noch verwenden sie traditionell antisemitische Symbole oder Bilder, noch vergleichen sie die israelische Politik mit dem Nationalsozialismus.

    Ein zweites Beispiel: „Dem skizzierten Zuwachs antisemitischer Vorfälle in explizit politischen Kontexten im Jahr 2024 droht die Politik derweil mit einer zunehmenden Gewöhnung an antisemitische Vorfälle und mit deren Normalisierung zu begegnen. So dauerte es über ein Jahr, bis der Bundestag eine Antisemitismus-Resolution verabschiedete, der sich nicht alle demokratischen Fraktionen und Gruppen anschlossen.” (S. 6)

    Zum einen hatte die Kritik an der Antisemitismus-Resolution des Bundestages wohlüberlegte, gute, inhaltliche Gründe, die von RIAS unterschlagen werden. Es gab eine von Wissenschaftler:innen erarbeitete Alternativ-Resolution, die nicht zur Abstimmung zugelassen wurde und die einige Abgeordnete, die sich dann in der Abstimmung enthielten, gerne unterstützt hätten. Zum anderen deutet die Tatsache, dass der – leider – mit überwältigender Mehrheit verabschiedeten Bundestagsresolution nur zwei Handvoll Enthaltungen zu den hundert Prozent fehlten, vor allem auf eine Normalisierung eines autoritären Diskurses und Gewöhnung an autoritäre Politik hin. 100-Prozent-Zustimmungen waren vielleicht in der DDR die Regel, sollten aber von keinem freien Parlament erwartet werden.

    Es drängt sich der Eindruck auf, dass solche Passagen in den RIAS Berichten mit intellektueller Schwäche und institutioneller Verantwortungslosigkeit alleine nicht zu erklären sind. Vielmehr wird ein Strohmann aufgebaut. Der „israelbezogene Antisemitismus“, dem RIAS den Kampf angesagt hat, ist in weiten Teilen eine Unterstellung und in erster Linie dazu geeignet, die wachsenden Proteste gegen das israelische Vorgehen in Gaza und der Westbank zu stigmatisieren und um autoritäre Politiken in Deutschland zu rechtfertigen. Der Strohmann funktioniert umso besser, als es durchaus auch einen echten israelbezogenen Antisemitismus gibt.

    Deshalb muss auf Differenzierung bestanden werden: Es ist nicht antisemitisch, die problematische Genese des Staates Israels – und damit auch die Probleme seiner „Existenz“ – zu adressieren; vielmehr lassen sich die Verbrechen der amtierenden rechtsradikalen Regierung in Israel ohne Kenntnis der Genese nicht verstehen. Sehr wohl antisemitisch ist es hingegen, diese problematische Genese auf die „anderen“ – seien es Israelis oder gar Juden und Jüdinnen – abzuwälzen. Stattdessen muss sie als Problem unserer Staatenwelt insgesamt – und vor allem auch Deutschlands – anerkannt werden. Ebenso ist es antisemitisch, Juden und Jüdinnen auf einen exklusiven und ausgreifenden, ethnisch-religiös definierten Staat zu reduzieren; genau dies aber legt der RIAS-Bericht nahe.

    Immerhin scheint sich RIAS den Diskursveränderungen und dem Stimmungswandel, der inzwischen sogar in der Bundesregierung zu beobachten ist, angesichts der Ereignisse in Gaza und der Westbank, ebenfalls in winzigen Schritten anzupassen. In der Pressekonferenz am 4. Juni rückte RIAS davon ab, es umstandslos als antisemitisch zu klassifizieren, wenn die Besatzungsherrschaft Israels als „Apartheid“ oder die israelische Kriegsführung in Gaza als „Genozid“ bezeichnet werden. Nun solle doch der Kontext bestimmend sein. Der Bericht 2024 allerdings zeigt, dass das Sprechen über „israelische Apartheid“ durchaus auch ohne Kontext in die Statistik eingegangen ist. Der Slogan „Kein Pride der Apartheid” wurde als antisemitischer Vorfall gezählt, obwohl er sich ausdrücklich auf die Repression in der Westbank und in Gaza bezogen hatte. Man kann nur spekulieren, dass im Jahresbericht 2025 „Apartheid“- und „Genozid“-Vorwürfe nicht mehr als antisemitische Vorfälle auftauchen werden. Doch besser als die inkonsequente und stillschweigende Aufgabe unhaltbarer Positionen wäre es, die Kurzschlüsse der IHRA-Definition insgesamt aufzugeben bzw. sich für eine abwägende Diskussion verschiedener Definitionen zu öffnen und Transparenz für das Monitoring herzustellen. Auch könnte sich RIAS bei denen entschuldigen, die – vor allem Palästinenser und „linke“ Juden – grundlos als Antisemiten diffamiert wurden und werden.

    Einige Tage vor der Präsentation des RIAS-Berichts veröffentlichte, wahrscheinlich nicht zufällig, die jüdische Organisation Diaspora Alliance einen Gegenbericht des israelischen Journalisten und Datenanalytikers Iltay Mashiach. Er ist die bisher einzige systematische Untersuchung und Kritik an RIAS als Institution sowie an seinen Berichten, umfasst allerdings nur die Jahre bis 2022, da er bereits im September 2023 fertiggestellt wurde. Das entsetzliche Massaker des 7. Oktober mit all seinen Folgen, von denen Iltay Mashiach auch persönlich betroffen war, hat eine Veröffentlichung zu einem früheren Zeitpunkt verunmöglicht. Dass der deutsche Diskurs es bisher nicht aus sich heraus fertiggebracht hat, RIAS zu kritisieren, sondern die Kritik wieder einmal Außenstehenden überlässt, mag auch dazu beigetragen haben, dass die Veröffentlichung so lange gedauert hat.

    Der Gegenbericht teilt mit den RIAS-Berichten die Diagnose eines wachsenden, bedrohlichen Antisemitismus und unterstützt das Grundanliegen des Monitorings. Aber er bemängelt die Methoden von RIAS, insbesondere die Dekontextualisierung von „Vorfällen“, die Intransparenz der Datenerhebung und ein Antisemitismusverständnis, das er „eternalistisch“ nennt. Gemeint ist damit die essentialisierende und unhistorische Annahme, dass Antisemitismus überall und immer gleich – und potenziell auch gleich gefährlich – sei und Intention keine Rolle spiele. Als ein Beispiel dafür, welche absurden Ergebnisse dieses Vorgehen zeitigt, rekonstruierte Mashiach gleich in der Einleitung den von RIAS als antisemitisch eingestuften „Vorfall“ einer Rede des israelisch-jüdischen Historikers Moshe Zimmermann am Holocaust-Gedenktag 2020 vor dem Landtag von Sachsen-Anhalt:

    „Vor den deutschen Landtagsabgeordneten sprach Zimmermann an diesem Tag über ‚den gewundenen Weg nach Auschwitz‘, der 200 Jahre vorher begonnen habe. Er wollte zeigen, dass uns gerade die frühen Anzeichen sich anbahnender Verbrechen Sorgen bereiten sollten, auch wenn sie für Zeitgenoss*innen oft nur schwer als solche zu erkennen sind, da sich die Gesellschaft nur langsam verändert, die Anzeichen sich erst über die Zeit verdichten. ‚Nie wieder Auschwitz? Zu banal, zu selbstverständlich‘, stellte er fest und lenkte stattdessen den Blick auf jene unscheinbaren Anfänge, die irgendwann vielleicht nach Auschwitz führen könnten. Diese Momente seien es, so der israelische Historiker, die die Warnung ‚nie wieder‘ verdienen würden. Zugleich betonte er, dass seine Rede, in der es ‚um das ubiquitäre menschliche Verhalten und um Universalgeschichte‘ ging, an die ganze Welt adressiert sei, und dass seine Schlussfolgerung ‚auch für Israelis [gelte], und nicht nur aus der Opferperspektive‘.” (S. 9)

    Im RIAS-Bericht 2020 wurde diese Rede anonymisiert als Vorfall aufgenommen, weil sie eine Gleichsetzung „der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser_innen mit der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus“ nahegelegt habe. Dass diese Fehldeutung kein Ausrutscher war, bestätigte jüngst RIAS-Sprecher Daniel Poensgen in einem Interview in der taz: „Hier werden in einem deutschen Parlament ausschließlich Israelis als Gruppe erwähnt, die aufpassen müssen, die deutschen Verbrechen nicht zu wiederholen. Dabei haben wir den Kontext der Aussage [vor einem deutschen Parlament] ganz besonders gewichtet und diese Situation als Vorfall in die Statistik aufgenommen.“

    RIAS behauptet, dass Zimmermann „ausschließlich Israelis“ erwähnt haben soll, obwohl dieser seine Rede explizit an die „ganze Welt“ adressierte und seine Schlussfolgerungen deshalb eben „auch für Israelis“ gelten ließ – und niemand stört sich daran. Der Funktionsmechanismus, der eine solche Missachtung von Evidenz möglich macht, ist der einer mit Staats- und Machtinteressen kompatibel gemachten Viktimisierung. RIAS will die „Perspektive von Juden” stärken, die per se als Opferperspektive gefasst wird. Die Perspektiven von Juden, die die Prämissen von RIAS nicht teilen – Moshe Zimmermann, die Diaspora Alliance, Iltay Mashiach und viele andere –, werden nicht nur ausgeblendet, sondern geraten unversehens auf die Täterseite. Moshe Zimmermanns Rede geriet zu einem „antisemitischen Vorfall“, weil ihre Universalisierung der Lehren von Auschwitz, vor einem deutschen Parlament, die „Perspektive von Juden“ als reiner Opferperspektive in Frage stellte. Mit diesem Verständnis können auch Nichtjuden, die diese Perspektive verteidigen, zu „Opfern“ von Antisemitismus werden. Dass Moshe Zimmermann als Universalist und im übrigen als Nachkomme von Holocaust-Überlebenden kein Antisemit ist, war für RIAS unerheblich: „(G)rundsätzlich spielt die Intention bei antisemitischen Aussagen für unsere Einschätzung keine große Rolle”, sagt Poensgen im Interview.  

    Aus dieser Perspektive findet auch das Missverhältnis eine Erklärung, demzufolge die Hochschulen laut RIAS ein Hort des Antisemitismus seien, mit überproportional vielen „antisemitischen Vorfällen“; obwohl doch eine Studie der Universität Konstanz vom April 2025 zu dem Ergebnis kam, dass „(a)ntisemitische Haltungen bei Studierenden weniger ausgeprägt (sind) als bei der Gesamtbevölkerung“. Während laut Konstanzer Studie zwanzig Prozent der Bevölkerung „allgemeinen Antisemitismus“ aufweisen, sind es unter Studierenden nur sechs Prozent. Der Anteil von nicht nur nach der IHRA-Definition bestimmtem „israelbezogenen Antisemitismus“ liegt in der Bevölkerung bei zehn Prozent, bei Studierenden bei sieben. RIAS kann es aber egal sein, ob die Studierenden tatsächlich Antisemiten sind oder nicht, nach welcher Definition auch immer. Es reicht, wenn in großer Zahl rote Dreiecke und Intifada-Sprüche gemeldet werden, die dann zusammen mit der schweren Körperverletzung von Lahav Shapira durch einen Kommilitonen zu einem mörderischen, für alle jüdischen Studierenden hochgefährlichen Szenario kombiniert werden.

    Mashiach handelt alle methodischen Probleme der Arbeit des RIAS und ihre Folgen der Reihe nach ab: die Außerachtlassung von Intentionen und das „Ewigkeitsargument“; die von der Datenlage nicht gedeckte „Überbetonung israelbezogene(n) Antisemitismus in der Außenkommunikation”; den Bias bei der Interpretation israelbezogener Äußerungen oder Symbole; die dünnen und einseitigen Begründungen; die Dekontextualisierungen und die Intransparenz; die ungelöste Frage, wie die Deutungsmacht bei der „Entschlüsselung antisemitischer Codes“ eigentlich legitimiert und rechenschaftspflichtig gemacht werden kann; die Diskreditierung und Stigmatisierung palästinensischer Narrative und der Generalverdacht gegen sie; sowie, als Kehrseite davon, die Stärkung des nationalistischen israelischen Siedlernarrativs und die Verschleierung von politischen und propagandistischen Zielsetzungen, indem der Protest dagegen als antisemitisch gebrandmarkt wird; und schließlich die Beförderung eines antimuslimischen, antiarabischen, antipalästinensischen Rassismus.

    RIAS hat den Gegenbericht der Diaspora Alliance bisher nicht inhaltlich kommentiert, sondern nur als grundlos böswilligen Versuch der Abwertung seiner Ergebnisse diffamiert. Er ist offenbar nicht in der Lage, auf die Kritikpunkte sachlich und inhaltlich einzugehen. Ja, er ist nicht einmal in der Lage, die kleinen Unsauberkeiten in dem Gegenbericht zu entdecken, die er ausbeuten könnte. An einer Stelle bezieht sich der Gegenbericht auf ein Vorwort des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, im Jahresbericht 2021 von RIAS Bayern, das angeblich antiarabische oder antimuslimische Aussagen enthalten habe. Die leicht verfälscht zitierte Aussage Schusters stammte jedoch aus einem Interview 2015.

    Aber anstatt einem freiberuflichen israelischen Journalisten die kleinteilige Mühe und die Verantwortung dafür aufzubürden, sollten sich Forscher in Deutschland finden, um die Arbeit von RIAS kritisch zu hinterfragen und um dafür zu sorgen, dass endlich mit offenen, diskutierbaren Rassismus- und Antisemitismusdefinitionen eine tragfähige Datenlage geschaffen wird. Es muss Schluss sein mit einem Antisemitismusverständnis, das umstandslos und ohne Differenzierungsmöglichkeit Antizionismus unter Antisemitismus subsumiert und Kritik – auch Fundamentalkritik – an Israel als per se antisemitisch denunziert. Es muss vor allem auch Transparenz hergestellt werden, und Intransparenz darf sich nicht hinter angeblichem Opferschutz verstecken: 80 Prozent der vom RIAS 2024 erfassten „Vorfälle“ richteten sich nicht gegen Einzelpersonen; es gibt also keinen Grund, sie nicht zu veröffentlichen. Die Befürchtungen, dass Kritik an Israel, am Zentralrat, an RIAS oder am Antisemitismusbeauftragten Felix Klein den Schutz von Juden und Jüdinnen gefährdet, müssen anders beantwortet werden als mit autoritären, wirklichkeitsverzerrenden Setzungen. Denn während die Menschenrechtsverletzungen und schweren Kriegsverbrechen in Gaza und in der Westbank genozidale Züge annehmen, von Deutschland aber weiterhin mit Waffen und propagandistischer Rechtfertigung unterstützt werden, schießen auch antisemitische Verschwörungstheorien ins Kraut. Und diese werden durch die Arbeit des RIAS eher befördert als bekämpft.

  • Organisierte Verantwortungslosigkeit. Urteilen über Gaza im Licht von Auschwitz

    Organisierte Verantwortungslosigkeit. Urteilen über Gaza im Licht von Auschwitz

    Hannah Arendt 1958
    CC BY-SA 4.0; Münchner Stadtmuseum, Archiv Barbara Niggl Radloff

    Unmittelbar nach Kriegsende, 1945, verfasst Hannah Arendt einen Text mit dem Titel Organisierte Schuld. Es war einer der ersten Versuche, das nun nicht mehr zu Leugnende politisch und begrifflich zu fassen: den „Verwaltungsmassenmord“ an Millionen von Menschen und den systematischen und industriell betriebenen Versuch, das europäische Judentum zu vernichten. Für ihn brauchte es, wie Arendt schrieb, „nicht Tausende ausgesuchter Mörder“, weil „die totale Mobilmachung“ alle impliziert und so in der „totalen Komplizität des deutschen Volkes geendet“ habe.

    Arendt schrieb nicht als Historikerin oder unparteiische Zeugin, sondern als politische Denkerin. Als eine, die hinsieht – und urteilt. „Wirklich leben heißt, diese Gegenwart zu realisieren“, notiert sie wenige Jahre später. Sie fragte, wie es möglich gewesen war, dass so viele mitmachten und nur wenige widersprachen – und dass nach der bedingungslosen Kapitulation so viele nur vergessen wollten.

    Ihre These: Schuld wurde in der nationalsozialistischen Herrschaft nicht vertuscht oder verdrängt, sondern organisiert. Sie wurde aufgeteilt, entpersonalisiert, moralisch entkernt – um Verantwortung zu zersetzen. Die Linie, schreibt Arendt, die Schuldige von Unschuldigen trennt, wurde so effektiv verwischt, dass man kaum mehr unterscheiden können wird, wer Täter war und wer sich gegen das Morden gestellt hatte. Nicht der Einzelne trägt die Last des Unrechts, sondern alle – und damit keiner.

    „Jeder hat nur seine Pflicht getan“, sagten die Täter – ohne Zynismus, ohne Reue. Die eigentliche Leistung des Totalitarismus habe in der Produktion von Mittuenden gelegen. Sie kennen und empfinden keine Verantwortung und nehmen sich bloß als Teil einer Apparatur, einer Ordnung wahr. Arendt zitiert einen Lagerbuchhalter: „Haben Sie persönlich geholfen, Leute zu töten? Durchaus nicht. Ich war nur Zahlmeister im Lager. Was dachten Sie sich denn bei diesen Vorgängen? Zuerst war es schlimm, aber wir gewöhnten uns daran.“ 

    Wenn Schuld zur Funktion wird, wird Denken zur Störung. Genau das ist Arendts Pointe. Das Gewissen wurde nicht ausgeschaltet, es wurde überformt. Die Sprache nicht zerstört, sondern neu kodiert. Wörter wie „Lösung“, „Evakuierung“, „Umsiedlung“ dienten nicht der Täuschung, sondern der Entlastung. Mitreden war möglich – ohne zu wissen. Oder besser: ohne wissen zu wollen.

    Diese Diagnose zielt auf das Wesen des modernen Staates und seiner Bürokratie, die jede Handlung so in ein System einbindet, dass niemand mehr zu sagen braucht: Ich bin verantwortlich. Das war Arendts frühe Warnung – und sie ist so aktuell wie seit langem nicht mehr. Wir finden uns heute in einer Situation wieder, in der wir nicht mehr nur Zeug*innen, sondern Kompliz*innen, Teilnehmer*innen der Entgrenzung von Gewalt und der Verwischung von Verantwortung geworden sind.

    Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 sind wir in eine Dynamik hineinverwickelt, die jeder moralischen Sprache entgleitet – und zugleich durch Sprache legitimiert wird. Das Völkerrecht garantiert das Recht auf Selbstverteidigung – für Israel wie für die Menschen in Palästina. Es verpflichtet Staaten und bewaffnete Gruppen, das Leben Unbeteiligter zu schützen. Der bis heute nicht restlos aufgeklärte Angriff der Hamas auf Zivilist*innen und die Verschleppung von Geiseln nach Gaza waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gehören als solche geahndet. Dass die Erschütterung und Bedrohung der israelischen Gesellschaft – und jüdischer Gemeinden weltweit – als Blankoscheck genommen wurde, um mit weiterer Entgrenzung von Gewalt zu reagieren, treibt die Dynamik allerdings ins Bodenlose. 

    In Gaza ist nicht mehr zu leugnen, dass systematisch vorgegangen wird, um mit der völligen Zerstörung aller Infrastruktur, mit dem Aushungern der Bevölkerung, mit dem massenhaften Töten von Zivilist:innen und mit der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen dem palästinensischen Volk als Ganzes und in Teilen das Lebensrecht abgesprochen wird. Eine belagerte Todeszone – ohne Zuflucht, ohne Ausweg, ohne Zukunft. Eine immer größer werdende Zahl von Genozidforschern und Völkerrechtlern kommt zu dem Schluss, dass die Kriterien für einen Völkermord erfüllt sind.

    Und die Sprache? Sie funktioniert hervorragend. Sie spricht von „präzisen Schlägen“ oder „chirurgischen Operationen“, wo massenhaft Zivilist:innen sterben. Jedes getötete Kind ist für sie potentiell ein „human shield“ oder ein werdender „Terrorist“. Sie wiederholt gebetsmühlenhaft: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ – und erlaubt es, die Frage wegzudrücken, wie weit dieses Recht reicht, was es aufwiegt, wo es endet. Sie beteuert: „Wir tun, was notwendig ist“, und lässt vergessen, dass wir es sind, die weiter Waffen liefern.

    Wieder wird Verantwortung organisiert, damit niemand verantwortlich ist. Die USA liefern Waffen, Ressourcen, Infrastruktur, propagandistische Unterstützung, und während der Präsidentschaft von Joe Biden erklärten sie manchmal, sie hätten »rote Linien«, die aber folgenlos überschritten werden konnten. Die UNO warnt, zählt, dokumentiert – doch ihre Resolutionen verhallen. Die EU ringt um Formulierungen, ist gespalten. Die deutsche Regierung liefert ebenfalls Waffen, solidarisiert sich mit der israelischen Regierung selbst dort, wo ziviles Leben systematisch entwertet und zerstört wird, und äußert erst „Kritik“, wenn international Isolation droht – eine Kritik, die im übrigen wieder weitgehend folgenlos bleibt. 

    Verantwortung wird nicht offen geleugnet – sie wird verteilt, verwischt, abgegeben: durch Beteiligung, durch Sprache, durch Schweigen. Die strukturelle Gewalt – jahrzehntelange Besatzung, Blockade, die systematische Zerstörung von Infrastruktur und Ressourcen auch schon lange vor dem 7. Oktober – bleibt ausgeklammert. Stattdessen dominiert eine Rhetorik der Notwendigkeit und moralischen Selbstvergewisserung.

    Arendt wusste: Wer das politische Denken verteidigen will, muss die Sprache verteidigen. Nicht als Ornament, sondern als Ort des Urteils. Sie zeigte, wie gefährlich es ist, wenn Begriffe ihren moralischen Kern verlieren – und wie notwendig es ist, Unterscheidungen aufrechtzuerhalten: zwischen Täter und Opfer, Angriff und Verteidigung, Verhältnismäßigkeit und Vernichtungswille.

    Heute erleben wir eine sprachliche Regression: Kritik wird als bloße Weltanschauung abgetan, die Benennung von Gewalt gilt als Bedrohung. Wer das Unrecht gegen die Palästinenser:innen sichtbar macht, wird des Antisemitismus verdächtigt. Wer auf Gerechtigkeit besteht, gefährdet vermeintlich die Sicherheit. In dieser Umkehrung verengt sich das Sagbare – bis die Verteidigung der Welt im Arendtschen Sinne unmöglich wird. Denn was nicht erscheint, kann nicht zum Gegenstand gemeinsamen Handelns werden. Wo das Sagbare sich verengt, wird das Wirkliche neu gesetzt – denn in der Sprache des Krieges wird Realität nicht beschrieben, sondern gemacht. Begriffe wie „menschliche Schutzschilde“ machen letztlich die Opfer verantwortlich. Wer eine vollständige Belagerung als „Selbstverteidigung“ bezeichnet, verschiebt die Schuld dahin, wo die Toten verscharrt wurden.

    Diese Sprache ist funktional. Sie schafft Distanz, moralische Entlastung, Zustimmung. In Pressemitteilungen, Regierungserklärungen, sozialen Medien wird sie zur Munition: „Terror-Infrastruktur“, „sichere Zonen“, „präzise Operationen“. Jedes dieser Wörter steht zwischen uns und der Wirklichkeit und verhindert, dass wir sie realisieren, wie Arendt es forderte.

    Und an diesem Punkt berühren sich Geschichte und Gegenwart: Arendts Text entstand, als die Bilder aus den Lagern frisch waren und als Auschwitz nicht Abstraktion, sondern unmittelbare Gegenwart war. Sie schrieb gegen das kollektive Wegsehen, gegen die Bereitschaft, zur Tagesordnung überzugehen. Nicht im Namen der Vergangenheit, sondern im Namen einer Zukunft, die anders werden sollte. Heute ist historische Schuld eingefroren, ohne zu gegenwärtiger politischer Verantwortung zu führen. Auschwitz ist zum moralischen Besitzstand geworden. Die Nachkommen von Tätern treten heute als Gedenkwächter auf – und leiten daraus eine Verantwortung ab, die sich allein auf jüdisches Leben bezieht, nicht auf das palästinensische unter Bomben. Das ist keine Lehre aus der Geschichte – das ist ihre Instrumentalisierung. 

    Arendt lehnte jede sakrale Unverfügbarkeit von Geschichte ab. Erinnerung, die nicht ins Urteil und Handeln führt, wird zur moralischen Pose: „Nie wieder.“ Arendt hätte kritisch gefragt: Nie wieder was? Nur Auschwitz? Oder jegliche Entmenschlichung, Vertreibung, Entrechtung? Sie stritt dafür, Verantwortung plural und differenziert zu denken – nicht exklusiv, sondern inklusiv: Wer aus Auschwitz lernt, darf Entrechtung nirgendwo legitimieren. Auschwitz muss eine radikale ethische Mahnung bleiben: Jede Form der Entmenschlichung ist zu benennen, auch dann, wenn sie von einem Staat ausgeht, dem Deutschland historisch verpflichtet ist. Gerade dann.

    Arendt unterschied zwischen Schuld und Verantwortung. Schuld betrifft Täter:innen. Verantwortung betrifft alle, die Teil einer politischen Ordnung sind, und verpflichtet sie zu kritischem Denken, Unterscheidung, Urteilskraft. Sie erwächst nicht aus Identität, sondern aus dem Mit-Sein in der Welt. Wer in einer politischen Ordnung lebt, trägt Mitverantwortung – nicht, weil alle Täter:in sind, sondern weil alle Zugehörige sind.

    Arendt hätte nicht nach Lösungen gefragt, sondern nach Räumen des Handelns, in denen Verantwortung geteilt, Gewalt benannt, Alternativen hörbar werden. Solche Räume existieren, auf beiden Seiten, sowohl der israelischen als auch der palästinensischen, und im besten Fall auch beide Seiten verbindend. Aber auch sie sind in ihrer Existenz bedroht. Bereits 2021 hat Israel sechs palästinensische Menschenrechts-NGOs verboten, darunter Al Haq in Ramallah, eine Organisation, die viele Jahre lang Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten dokumentierte – begangen sowohl von Israel als auch von Palästinensern. Um das Verbot dieser NGOs zu rechtfertigen, wurde und wird sich der Sprache der „Sicherheit“ und der „Terrorbekämpfung“ bedient. Diese Sprache bezieht längst auch israelische NGOs ein, die sich für die Rechte von Palästinenser:innen einsetzen. Breaking the Silence und B’Tselem wurde schon 2016 vorgeworfen, „Verräter“ zu sein. Ein neues israelisches Steuergesetz will eine 80-Prozent-Strafsteuer auf ausländische (westliche!) Spenden für israelische NGOs erheben. Der Organisation Standing Together wurde im April von der israelischen Polizei verboten, Bilder von getöteten palästinensischen Kindern auf einer Demonstration zu zeigen. Und im Januar hatte noch die alte Bundesregierung den friedensaktivistischen Organisationen Zochrot und New Profile mitten im laufenden Projektzeitraum die außenpolitische Unbedenklichkeit und Förderfähigkeit entzogen.

    All dies dient nicht der Sicherheit Israels – ganz im Gegenteil -, sondern nur der Unterdrückung der Opposition gegen Menschenrechtsverbrechen. Die Sprache, die das verschleiert, schwächt unsere Urteilskraft. Aber urteilen zu können – das ist vielleicht die wichtigste politische Tugend, schrieb Arendt. Nicht Loyalität schützt die Demokratie, sondern die Fähigkeit, zu unterscheiden. Wer aus der Geschichte lernen will, darf sich nicht mit Gedenken begnügen. Jetzt gilt es zu handeln. Neu zu sprechen. Klar zu sprechen. Weil die Realität nicht durch Euphemismen entschärft werden darf. Arendt wusste das. Wer heute von Gaza spricht, sollte sie beim Wort nehmen. 

  • Stumpft die Fixierung auf den Genozidbegriff uns gegen neue Genozide ab?

    Stumpft die Fixierung auf den Genozidbegriff uns gegen neue Genozide ab?


    A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur, Berlin (Matthes & Seitz) 2023, 160 S.

    „Nach dem Genozid“ – es ist schwer, in diesen Tagen den Titel der 2023 auf deutsch erschienenen, stark gekürzten Fassung von Dirk Moses’ epochalem 600-Seiten-Werk „Problems of Genocide“ nicht auf Gaza zu beziehen, wo es bald kein palästinensisches Leben mehr geben dürfte. Aber gerade in Bezug auf Gaza hat auch die andere, eigentliche Bedeutung des Titels einen Sinn: dass der Genozidvorwurf selbst nicht taugt, um diese Verbrechen zu verhindern, und die Verbrechen eher verschleiert als klärt. Während sich die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass es sich beim Vorgehen Israels in Gaza tatsächlich um einen Genozid handelt, ist es für Zehntausende von getöteten Menschen schon zu spät, und man ahnt, dass die Fixierung auf das Genozid-Paradigma selbst dazu beigetragen haben könnte. Die Institutionen des Völkerrechts kollabieren, und im Moment dieses Niedergangs werden ihre Geburtsfehler sichtbar.

    In Moses’ deutschem Buch ist, anders als in der englischen Vollversion, von Palästina fast nicht die Rede. Die zeitgenössischen Fallbeispiele sind vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine, aber auch Sudan, Syrien, Myanmar, China. Es wurde vor dem 7. Oktober fertig gestellt und nimmt wohl auch Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten. Seine große These ist aber auch ohne expliziten Bezug auf Palästina mit der Staatsräson-getriebenen deutschen Erinnerungskultur inkompatibel. Sehr kurz zusammengefasst die These: Laut Genozid-Konvention 1948 sollten Verbrechen wie der Holocaust in Zukunft verhindert werden. Doch ihre Unterscheidung zwischen militärischen und genozidalen Intentionen (die ersteren zielen auf Niederschlagung, die letzteren auf Vernichtung) ermöglichten es genozidaler Kriegsführung, also Kriegen mit Vernichtungsabsicht, sich der engen Definition der Genozid-Konvention zu entziehen.

    Moses sagt, dass genozidale wie auch andere Formen der Massengewalt gegen Zivilist:innen von einer Pseudo-Rationalität getrieben werden, nämlich dem Streben nach einer „permanenten Sicherung“ durch Verhinderung antizipierter Angriffe. Das äußert sich in den Begrifflichkeiten der „Sicherheit“, der „Vorbeugung“, der „Endlösung“ etc. Die Pseudo-Rationalität der dauerhaften Sicherung rechtfertigt auch Massentötungen und Belagerungen von Zivilist:innen in nicht oder noch nicht genozidalen Kriegen, die Widerstand und Bedrohung nicht antizipieren, sondern darauf reagieren: mit Flächenbombardierungen und Drohnenangriffen, mit dem Einsatz der Atombombe, mit Aushungern und langsamem Sterbenlassen, mit Kolonialverbrechen aller Art. In der Praxis gehen militärische und genozidale Logiken und Intentionen Hand in Hand und sind miteinander verflochten. 

    Dass in Konflikten, wo es letztlich um Widerstandsbekämpfung geht, aus jedem Kind ein Terrorist werden und jeder unschuldige Mensch ein „human shield“ sein kann, macht grässliche Verbrechen möglich, die dann für die Zuschauer quasi unmerklich ethnisch und rassistisch aufgeladen in Genozide übergleiten können. Die Betroffenen wissen natürlich von Anfang an, welch verbrecherischer Dynamik sie ausgesetzt sind. Aber die Täter, die Bystander, die Komplizen können sich die Verbrechen schönreden, mit Verweis auf Verteidigung und dauerhafte Sicherung. „Nie wieder Hamas“ resultiert unter der Maßgabe der permanenten Sicherung zwangsläufig in der Zerstörung Gazas, in der Massentötung von palästinensischen Zivilist:innen und in ethnischer Säuberung, unter dem „humanitären“ Vorwand, das sei auch im Interesse der Bevölkerung. 

    Die deutsche Mehrheitsgesellschaft – in Medien, Politik, und auch in Fachkreisen – hat bis heute Dirk Moses nicht verziehen, dass er den „Katechismus“ ihrer staatlich sanktionierten Erinnerungskultur durch schlichte Beschreibung seiner Bestandteile bloßgelegt hat. Moses hatte mit seiner Intervention lediglich vorgeschlagen, die völkischen Vorannahmen der Erinnerungskultur loszuwerden und sie so weiterzuentwickeln, dass sie inklusiv für Opfererinnerungen wird, die von der Singularitätsthese mit ihrer Fixierung auf Ideologie verdeckt werden.

    Der „Historikerstreit 2.0“, oder wie immer man ihn nennen soll, zeichnet sich in Deutschland nun leider unter anderem auch dadurch aus, dass Dirk Moses bis heute regelmäßig diffamiert und in die Nähe von Holocaustverharmlosern und ‑relativierern gerückt wird. Eine Diskursanalyse der Selbstwidersprüche und empirischen Falschheiten, mit denen in deutschen Medien sein Ruf zerstört wurde, steht aus. „Moses und andere wollen weder in der Shoah noch im NS-Antisemitismus spezielle Qualitäten erkennen, die den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden von kolonialen Genoziden fundamental unterscheidet“, muss man jetzt gerade wieder in der Mai-Ausgabe der „Sehepunkte“ lesen, und keine deutschen Fachkolleg:innen nehmen Moses gegen diese abstruse Verleumdung in Schutz. Natürlich weiß Moses um die „speziellen Qualitäten“ des Holocaust und um die Unterschiede zu den kolonialen Genoziden. Aber er analysiert sie eben im historischen Zusammenhang, mit der besonderen Temporalität, die der Holocaust hatte: 

    „Sie planten die Eliminierung feindlicher Gruppen im Voraus. Anders als ‚klassische‘ imperiale Gewalt war ein Großteil ihrer Gewalt dementsprechend vorsätzlich geplant. Sie versuchten, der Geschichte eine Richtung vorzugeben. So gesehen markieren das nationalsozialistische Reich und dessen berüchtigte Vernichtungspolitik den Kulminationspunkt jahrhundertelanger Imperienbildung sowie denjenigen der Vernichtung von in- wie ausländischen Feind*innen, seien sie real oder eingebildet. Dieses imperiale Projekt stand unter dem Zeichen eines ‚Erlösungsimperialismus‘, weil es, wie Hitler sagte, zur historischen ‚Lösung der deutschen Frage‘ führen würde, für die ‚es nur den Weg der Gewalt geben‘ könne. Der ‚Erlösungsantisemitismus‘ der Nationalsozialist*innen war ein integraler Bestandteil dieses Projekts, schließlich bedeutete die Vernichtung ‚der Juden‘ für sie auch eine grundlegende Antwort auf ‚die deutsche Frage‘.“ (S. 104–105) 

    Die selbstwidersprüchlichen, gehässigen und verständnislosen Unterstellungen,  die in Deutschland sonst noch gegen ihn vorgebracht wurden, sind teilweise an anderer Stelle widerlegt worden, aber diese Arbeit ist wohl müßig. Die deutsche Erinnerungskultur muss sich endlich davon befreien, die „Lehre aus dem Holocaust“ nationalistisch misszuverstehen. Mit Staatsräson und permanenter Sicherung ist einem neuen Massenmord an Juden, wie am 7. Oktober 2023 geschehen, nicht beizukommen. Stattdessen wird Deutschland sich immer tiefer in Verbrechen und sich vollziehende Genozide verstricken. Wie jetzt in Gaza. Darum geht es Dirk Moses.

    https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/nach-dem-genozid.html

  • Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Foto: Hossam el-Hamalawy

    Syrien, wenige Monate nach dem Fall der Assad-Diktatur: Noch immer sind weit über 100.000 vom Regime entführte Opfer verschollen, fast täglich werden neue Massengräber entdeckt. Die meisten von ihnen zu Tode gefoltert; davon müssen zumindest die Angehörigen der Verschwundenen ausgehen. Zehntausende, die an dem Foltern und Morden beteiligt und in den „Politizid“ schuldhaft verstrickt waren, laufen frei herum. Für „transitional justice“ – seien es Gerichtsprozesse oder Wahrheitstribunale – gibt es auf absehbare Zeit keine Ressourcen, keine Kraft, keine Strukturen. Die von Assad über Jahrzehnte unterdrückte und ausgeplünderte Bevölkerung lebt in unbeschreiblicher Armut. Der Westen hält seine Sanktionen aufrecht, niemand im Westen protestiert gegen die völkerrechtswidrigen Invasionen und Bombardierungen durch Israel. Assad-Anhänger, die ihre Privilegien verloren haben, verüben immer wieder Anschläge auf die Sicherheitskräfte des neuen Regimes. Das neue Regime schafft es nicht, will es wohl auch nicht schaffen, eigene Leute und konkurrierende Banden von Rachefeldzügen gegen die Bevölkerungsgruppe abzuhalten, aus der die Assad-Anhänger vor allem stammen. Und auch wenn neuen Massakern Einhalt geboten werden sollte, droht am Horizont wieder ein neuer Genozid, diesmal an den Alewiten.

    Die Bundesrepublik hat über einer Million Menschen aus Syrien Zuflucht geboten, macht sich von der politischen Situation des Landes aber keine Vorstellung. Schnell begnügt man sich mit der bequemsten Erklärung: Syrien ist, so heißt es, eben ein Vielvölkerstaat in einem bald latenten, bald offenen Bürgerkrieg. Das Assad-Regime habe immerhin Minderheiten lange einen gewissen Schutz geboten, nun aber bedrohe die sunnitische Mehrheit in einer „nie dagewesenen Islamisierung“ Alewiten, Christen und Drusen. Diese Erklärung passt zu den Rechtfertigungsnarrativen der gescheiterten deutschen Syrienpolitik, die schon 2013 mit Verweis auf „Dschihadisten, Terroristen und Extremisten in Syrien“ und die von ihnen bedrohten „Alawiten und Christen“ dem mörderischen Regime nichts entgegensetzen wollte. 

    Die syrischen Intellektuellen und Studierenden, die den demokratischen Widerstand gegen das Assad-Regime 2011 und folgende mittrugen und nach 2013 nach Europa geflohen sind, erzählen aber eine andere, eine kompliziertere Geschichte; eine Geschichte, in die Europa und die USA immer schon verstrickt sind. Sie sprechen von ”Konfessionalisierung“ (auf englisch besser: „sectarianism“) und sehen die Ursachen dafür nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, im Dominanzanspruch des sunnitischen Islam, sondern in den Herrschaftstechniken, die das Assad-Regime in über 50 Jahren zur Perfektion gebracht hat. In einem 2022 auf Französisch erschienenen Schwarzbuch der Assads sind diese im Detail nachzulesen.

    Diese Herrschaftstechniken der Spaltung und der Unterdrückung und gleichzeitigen Instrumentalisierung von Identitäten wurden begleitet von systematischer, erfindungsreicher Folter als allgegenwärtiger Möglichkeit. Die Folter hatte seit Anfang der 1970er Jahre in „Suriya al-Assad“, dem mit Assad identifizierten totalitären Polizeistaat, allmählich von der ganzen syrischen Gesellschaft Besitz ergriffen und konnte seit dem Beginn der Revolution 2011 jeden treffen, auch Frauen und Kinder. Das verkörperte Wissen um die Folter und ihre allgegenwärtige Möglichkeit, in der Assad’schen Ausprägung, kam mit der Massenflucht aus Syrien seit 2013 nach Deutschland. Als ich 2015 meine ersten Begegnungen mit syrischen Geflüchteten hatte, war die Konfrontation mit der Allgegenwart der Möglichkeit von Folter in ihren Erzählungen, in ihren Körpern, das, was meine Sicht auf die Welt – auch auf meine Welt in Deutschland und Europa – am nachhaltigsten veränderte. Syrische Studierende erzählten mir Albträume, die ich nie vergessen werde. Der Filmproduzent Orwa Nyrabia zeigte den Dokumentarfilm Silvered Water. Syria Self-Portrait, der zahllose Handy-Aufnahmen nicht nur von Bombardierungen und Kriegsszenen, sondern auch von Gefängnisfolter zu einem Kunstwerk verarbeitet; unter lebensgefährlichem Einsatz der syrisch-kurdischen Dokumentarfilmerin Wiam Simav Bedirxan und der Regie des nach Paris geflüchteten Regisseurs Ossama Mohamed. Später las ich Mustafa Khalifas autobiographischen Roman Das Schneckenhaus 

    Ein hervorragender Opferzeuge und Denker dieses staatlichen Terrors ist der in Berlin lebende politische Autor und Journalist Yassin Al-Haj Saleh. Er hat 2023 bei Matthes & Seitz in deutscher Übersetzung ein Buch über die Folter in Syrien und ihre Darstellung herausgebracht, zu einem Zeitpunkt, als die Assad-Diktatur, die sich als „ewig“ bezeichnete, fester im Sattel zu sitzen schien denn je. Dass Assad jetzt Vergangenheit ist, macht das Buch aber nicht weniger aktuell. Die in dem Buch zu einem einheitlichen Werk zusammengefassten Texte waren zunächst auf arabisch in unterschiedlichen Kontexten erschienen. Sie zeigen Verbindungen zwischen der Folter, dem Konfessionalismus und dem Salafismus auf, die immer noch wirken und auch in den sogenannten Westen weisen. Yassin Al-Haj Saleh hat selbst während seiner 16jährigen Haft (noch unter dem Vater Assad, zwischen 1980 und 1996) Folter erfahren; verurteilt als Mitglied einer kommunistischen Partei. Die an ihm begangene Folter war so, dass sie keine irreversiblen Schäden hinterließ; er konnte sie überwinden. Doch wurde er Zeuge der schrecklichsten und fürchterlichsten Foltern, mit denen die Anhänger der Muslimbrüderschaft gebrochen werden sollten: Folter, von der kein Mensch ins Leben zurückkehren kann.

    Das Buch bietet nicht weniger als eine politische Anthropologie der Folter. Saleh unterscheidet zwischen Foltern, die ein Weiterleben nicht ausschließen, und solchen, die den Tod nach sich ziehen; den Tod unter Folter und den Tod durch Folter; Foltern, die an Individuen begangen werden, und Foltern, die ein Kollektiv treffen. Das Buch ist voll von solchen Unterscheidungen, um Folter systematisch zu begreifen. Saleh erdachte sich wohl schon während der Haft und dann nach seiner Entlassung die Konzepte und Begriffe und Typologien, um seine Erfahrungen nicht literarisch, sondern politologisch-sozialwissenschaftlich zu verarbeiten. Er ist ein vielbelesener Autodidakt, nicht Teil des akademischen Betriebs, aber auch kein Journalist im engeren Sinne. Sein Schreiben ist nicht berichtend oder kommentierend, sondern immer analytisch, ordnend, konzeptionell. Er will seine Leser:innen dazu bewegen, der allgegenwärtigen Möglichkeit von Folter kühl, nüchtern ins Auge zu blicken und sie als eine extreme Erscheinungsform politischer Gewalt zu verstehen, die durch das kollektive implizite Wissen um sie einen Kreislauf der Vernichtung in Gang setzt.

    Er unterscheidet phänomenologisch drei Folterarten, in Bezug auf die Grenzen, die sie überschreiten, und auf ihre intendierten Wirkungen: Erstens die klassische Ermittlungs- oder Verhörfolter, die die Grenzen des Gefolterten überschreiten, um Geständnisse oder Informationen zu erpressen. Hier hilft die Unterwerfung und der Verrat, um die Folter zu beenden. Zweitens die Demütigungs- und Rachefolter, oder auch die Abschreckungsfolter, die willkürlich und unberechenbar ist, die eine unvergessliche Lektion erteilen soll, die der Gesellschaft als Ganzes gilt, ihr den unbedingten Gehorsam einpflanzen und Resistenzen insgesamt auflösen soll. Und drittens die Vernichtungsfolter, die nicht nur die Grenzen der Gesellschaft, sondern die Grenzen der Menschheit überschreitet, in der es kein Ermessen mehr gibt, die eine organisierte Mordindustrie erfordert. Ihr reicht als Vergehen, dass der Gefolterte überhaupt existiert. 

    Weiterhin unterscheidet Saleh die verschiedenen Ebenen der Folter: die Beziehungsebene zwischen dem Folterer und dem Gefolterten, auf der die Folterhandlung stattfindet; die Ebene des Apparats, des Betriebs, den es für die Folter benötigt; die Systemebene – Folter als Staat und als Ökonomie; und schließlich die Ebene der Welt, die die Folter geschehen lässt, um sie weiß und dabei von der Folter zerstört wird. Die intime Kenntnis dessen, wie Folter im Assad’schen Syrien funktioniert hat und was sie anrichtet, offenbart sich in dem Buch in zahlreichen Beobachtungen, die die Schrecklichkeit der Folter anschaulich machen, ohne je blutige Einzelheiten auszubreiten. Er beschreibt die Psychologie der Folter, wo die Angst des Gefolterten dem Hass des Folterers gegenübersteht. Beide werden entmenschlicht, indem der Folterer in der Macht über den Körper Gott gleich wird, der Gefolterte hingegen zur Sache. Damit der Folterer in der Folterbeziehung standhalten und den kalten oder heißen Hass für das Foltern aufbringen kann, muss er den Gefolterten eines Verbrechens beschuldigen, und dieses Verbrechen liegt in der Abweichung von dem Willen Assads. Um vom Willen Assads abzuweichen, reicht es, ein Mensch zu sein. Der Folterer reklamiert bedingungslose Liebe zu Assad, ist total mit Assad identifiziert und fordert eine Unterwerfung, die nie genügt. Paradoxerweise erleichtert die Folter dem Mörder die Schuld, hier zitiert Saleh Primo Levi: „Bevor das Opfer starb, musste es erniedrigt werden, damit der Mörder das Gewicht seiner Schuld nicht so spürte.“ 

    In dem Ziel der Vernichtung von Gemeinschaften, der Überflüssigmachung von Menschen und der Vernichtung von Welthaltigkeit überhaupt sieht er die Gemeinsamkeit genozidaler Regime. Assad-Syriens Massenmorden war unterhalb eines industriellen Niveaus, ein „manufakturhaftes System“, nicht unpersönlich und systematisch wie unter den Nazis, sondern mit Hingabe betrieben, kreativ, direkten Körperkontakt erfordernd, Gewohnheiten und Neuerfindungen verbindend. Während die Todesökonomie der Nazis kapitalistisch und irrational gewesen sei, diente sie unter Assad, obwohl auch Syrien eine hochgradig bürokratisierte Diktatur war, der in die äußerste Konsequenz getriebenen Rentierwirtschaft einer Familienherrschaft. Folter, auch in der Form von Aushungern und der Verweigerung des Zugangs zu überlebenswichtigen Gütern, sowie in der Form des Bombenterrors und des willkürlichen Zufügens von Schmerzen durch gegen Zivilist:innen gerichtete Angriffe, steht mit genozidaler Vernichtung in einem merkwürdigen Verhältnis. Die Vernichtungsfolter foltert auf den ersten Blick unnötig, da die Opfer so oder so sterben werden; ihr Sinn liegt darin, dass die Gemeinschaft, die vernichtet werden soll, weiß, dass Folter schlimmer ist als der Tod. Sie erkennt aber auch an, dass sie es mit Menschen zu tun hat, die erst entmenscht werden müssen, bevor man sie tötet. Für den Holocaust hingegen war Foltern, auch wenn es häufig vorkam, keine Notwendigkeit, so Saleh: „Demgegenüber verspürten die Nazis keinerlei Notwendigkeit, die Juden zu foltern, behauptete ihre rassistische Theorie doch apriori, um das bösartige Wesen der Juden zu wissen, womit diese von vornherein von jeder Gleichheit ausgeschlossen waren“ und „wie Läuse“ betrachtet wurden, so ungleich und bereits entmenscht, dass sie sozusagen der Mühe der Folter nicht wert waren.  

    Saleh schreibt auch zum Zusammenhang von Folter und Vergewaltigung: Beides verleiht absolute Macht über den Körper. Die Folter an Männern in Syrien war vom gleichen Chauvinismus getrieben, fand in der gleichen machistischen Geschlechterordnung statt wie die Vergewaltigungen der Frauen, mit einer Männlichkeitsvorstellung, die mit der Folter den männlichen Konkurrenten ausschalten und mit der Vergewaltigung die Frau schrankenlos besitzen will. Die Vergewaltigung ist Teil der genozidalen Vernichtung, sie soll die Gemeinschaft unfähig zur Fortpflanzung machen, als „aufgeschobener Mord“. Saleh sieht im IS und im Assad-Staat zwei Varianten systematischer Vergewaltigung: Während im IS, religiös verbrämt, ein Mann viele Frauen besitzt und vergewaltigt, vergehen sich im angeblich säkularen Terrorstaat viele Männer an einer Frau. (Ob diese Unterscheidungen empirisch immer haltbar sind, ist eine andere Frage; man muss sie idealtypisch verstehen.) Die seit den 1970er Jahren sich sukzessive immer mehr durchsetzende Verschleierung von Frauen in Syrien ist jedenfalls nicht nur eine Begleiterscheinung der zunehmenden Islamisierung, sondern reagiert auch auf die Vergewaltigungsbedrohung im Folterstaat. 

    Die syrische Revolution in ihren Anfängen versteht Saleh als einen Kampf der Syrer:innen um die „Würde ihrer Körper“: um einer Staatsgewalt Grenzen zu setzen, die bei der Verletzung der Würde von Körpern zu jeder Grenzüberschreitung fähig war und bei der Bekämpfung der Revolution dann genau dies im Exzess demonstrierte. 

    Der sogenannte Westen, Nord-Amerika und Europa, hat der grausamen Niederschlagung der syrischen Revolution weitgehend tatenlos zugesehen. Die „roten Linien“, die Barack Obama 2012 für den Fall des Einsatzes von Chemiewaffen gezogen hatte, wurden 2013 mit den Sarin-Angriffen auf Ghouta und mit vielen weiteren chemischen Angriffen überschritten, ohne dass die USA auch nur eine Flugverbotszone über Syrien eingerichtet hätten. Der Anteil des „Westens“ an der Entstehung und Stabilisierung des Assad-Regimes geht aber noch weit über das bloße Zusehen von Kriegsverbrechen hinaus. Die Destabilisierungen der jungen Demokratien im Mittleren Osten bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch kolonialistische und imperialistische westliche Machtpolitik und Kriege, durch die Nakba und die sukzessiven Massenfluchtbewegungen aus Israel/Palästina und durch das Insistieren auf einem konfessionell gebundenen jüdischen Staat, der westlichen Interessen verbunden war, untergrub die Legitimation der rechtsstaatlichen und demokratischen Bestrebungen in den arabischen Ländern. Dem Anspruch und der konstitutionellen Form nach war Syrien seit 1946 eine nicht konfessionell gebundene Republik. Konfessionelle Zugehörigkeiten und Identitäten wurden geleugnet und unterdrückt. Gerade der angebliche Säkularismus machte Syrien und seine Machthaber nach dem Ende des Kalten Krieges im Westen akzeptabel. Dabei hatte die Assad-Familie seit ihrer Machtübernahme 1970 den syrischen Sicherheitsapparat und die meisten wichtigen Positionen mit ihr loyalen Alewiten besetzt, die Konfessionen systematisch gegeneinander ausgespielt, den Konfessionalismus angeheizt und ihn als Waffe eingesetzt. Nach dem Generationenwechsel von Vater auf Sohn Assad war es gerade diese Form der „Minderheitenprivilegierung“ und des Doppelstaates, die das Assad-Regime unter dem in London ausgebildeten Bashir al-Assad als modern und potentiell dem Westen zugewandt erscheinen ließ.

    Der „Krieg gegen den Terror“ seit 9/11 gab dem Kampf des Assad-Regimes gegen die Muslimbruderschaft und die Islamisten erst richtig Schubkraft. Auch wenn es der Iran und Russland waren, die die militärische Unterstützung lieferten, ohne die das Regime sich 2013 nicht hätte halten können und ohne die es im Dezember 2024 dann auch prompt kollabierte: Der im Westen produzierte antimuslimische Rassismus half dem Regime bei der Ausbildung und Erhaltung der mörderischen Kleptokratie. Für Kleptokratien sind Ethnien, Zugehörigkeiten und Konfessionen nur ein Instrument, um die Bevölkerung zu spalten und sich äußeren Mächten anzudienen; ein Vorwand, um jede Freiheitsregung zu unterdrücken und die unterworfene Bevölkerung auszuplündern. Das hat das Assad-Regime durch Erpressungen, Geiselnahmen, Raubüberfälle in bisher nicht gekanntem Ausmaß gemacht. Das kleptokratische Regime konnte sich nach außen als Schutzherr von Minderheiten gerieren, die es begrenzt privilegierte und die vor allem deshalb, wie von vornherein beabsichtigt, von der sunnitischen Mehrheit gehasst wurden. Die antimuslimische Aufladung der Terrorismusbekämpfung und der Rassismus, dem ein gut rasierter und gut gekleideter massenmordender Bashar al-Assad mit seiner hübschen, in England aufgewachsenen Frau „zivilisierter“ erscheint als ein bärtiger Islamist, den man auch ohne Fernsehton Allahu Akbar rufen hört, verschafften ihm die internationale Legitimation oder Duldung für seine Verbrechen. 

    Yassin Al-Haj Saleh nennt das den „konfessionell-rassistischen Komplex“: „die Welt der Identitäten und Abstammungen“, die das Umfeld für die Genozide bilden. In der Darstellung des Schrecklichen wird erkennbar, dass der Assad-Staat eben nicht nur ein syrischer Sonderfall war, sondern eine „strukturelle Entsprechung“ in den internationalen Beziehungen hat. Das Völkerrecht selbst zeigt hier seine asymmetrische Seite, die sich mit den Diktaturen an der Peripherie seiner tragenden Mächte arrangiert. Die Foltern des Assad-Regimes können überall blühen. Sie sind nur die letzte Konsequenz einer „modernen“ Haltung, die skrupellos und räuberisch die eigenen Interessen durchsetzt und sich dafür des Rassismus bedient. Sie sind im Grunde eine Neuauflage der Quälereien und Foltern des Kolonialismus, während noch vorhandene Bindungen an irgendwelche Vorstellungen von Recht nicht mehr nur versteckt, sondern offen aufgekündigt werden. Der Islamismus reagiert darauf, indem er sich „salafisiert“ und seinen eigenen konfessionell-rassistischen Komplex ausbildet. Die Geschichte des Assad-Folterstaats kann diejenigen unter uns, die nicht – oder nicht mehr oder noch nicht – vor Folter Angst haben müssen, lehren, Folter nicht mehr als das Problem von anderen zu externalisieren, sondern als Signatur von in Geiselhaft genommener, dysfunktionaler moderner (National)staatlichkeit zu verstehen. 

    Der letzte in dem Buch abgedruckte Text, vielleicht der interessanteste, widmet sich schließlich dem Problem der Darstellung von Folter und der Vermittlung des Schmerzes, die diesen erst kollektiv, das heißt politisch verarbeitbar macht. Saleh versteht Darstellung als eine „Kombination von Ausdruck (die Erfahrungs- bzw. Ideenachse) und Gestaltung (Überlieferungsachse)“. Gestaltung ist undenkbar ohne eine Überlieferung, in die sie sich einschreiben kann. Aber die Überlieferung kann selbst nicht die neuen Darstellungsformen bieten, die für den Ausdruck neuer Erfahrungen gebraucht werden. Die „Darstellung des Schrecklichen“ ist auf existierende Formenbestände des politisch-sozialen Denkens einerseits angewiesen, muss sie andererseits kreativ weiterentwickeln. Wie kann das dem arabischen politischen Denken der Gegenwart gelingen? Hier sieht Saleh das eigentliche Problem des Islamismus: Wie jede traditionalistische Ideologie ist er zwar durchaus gestalterisch, doch sein Ausdruck, seine Subjektivität, ist auf Konflikt und Negation beschränkt. Dem erfahrenen Leiden, dem Gefoltertwerden, den Traumata, kann er keine Bedeutung, keine Darstellung geben, weil das das islamistische Traditionsverständnis herausfordern würde. Alles Erlittene, so will es die Ideologie, darf nur im Rahmen des Überlieferten ausgedrückt werden. Saleh zitiert die marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri und Abdallah Laroui: Im arabischen Denken gebe es einen besonderen Mechanismus, der das „Verborgene“, das „Ungelöste“, das „Problem“ – all jenes eben, an dem man leidet – immer an einem „Beleg“ messe. „Der ‘Beleg’ ist in der islamischen Rechtslehre ein Thema, zu dem bereits ein religiöses Urteil vorliegt.“ Dieses Denken in Analogien validiert alle Erfahrung nur anhand eines vorliegenden, autoritativen Textes. Liegt für eine zu verarbeitende Erfahrung kein geeigneter Text vor, wird die Erfahrung zur Abweichung und muss aufgegeben und ausgegrenzt werden. Eine „Darstellungsverweigerung“ – von der Laroui annahm, dass sie selbst „von einem als unerträglich empfundenen historischen Trauma herrührt.“ Laroui hatte über ein in vorislamische Zeit zurückreichendes historisches Unglück spekuliert, eine „Schande und Schmach“, die mit der Entstehung der Sunna selbst verbunden gewesen sei. Die Sunna sind im Altarabischen die Gebräuche, Handlungsweisen und Normen, die die auseinandergesprengten arabischen Stämme zusammenhalten sollen. Der Islam hat sie religiös aufgeladen: die „Sunna“ des Propheten sind nach dem Koran die zweite Quelle des islamischen Rechts. 

    Saleh sieht die Geschichte der arabischen Welt voller gescheiterter Darstellungen. Auch seine eigene Anhängerschaft an den Kommunismus, von dem er sich erst unter dem Eindruck von Lektüren während der Haft löste, sieht er als ein verkürztes, den realen Erfahrungen nicht entsprechendes Denken und als einen Fall dieses Scheiterns. Und heute? „Es scheint, dass wir heute wieder mit einem enorm verletzenden Geschehen konfrontiert sind, welches auch diesmal wieder starke Abwehreffekte mit dem Ziel des Selbstschutzes hervorruft.“ Die Sunna breche einmal wieder auseinander. Die kollektive Identität der sunnitischen Muslime werde nur noch durch äußerst gewaltvolle, die Realitäten ausblendende Ideologie zusammengehalten. Alle über Generationen unterdrückte Ereignisse und Erfahrungen werden in dem Auseinanderbrechen freigesetzt, „sie treten als gestaltlose Bestien, Dämonen und Monstren auf, die ihrerseits von keiner Sunna eingehegt werden.“

    Was bräuchte es, damit das politische Denken in Deutschland und Europa sich liebevoll, zuhörend, menschlich dieser auch durch westliches Einwirken entstandenen Kette von Traumata und Darstellungskrisen in der arabischen Welt zuwendet? Und davon ablässt, durch Rassismus zu ihrer Fortsetzung beizutragen? Saleh beschreibt – ohne jemals zu psychologisieren – die Psychologie des Islamismus als eine ausweglose Situation der Gestaltlosigkeit, „einer nackten, bis ins Äußerste schmerzlichen Existenz“. Er verweist auf Hannah Arendts Überlegungen über das Nachdenken: nur durch den Dialog der Einzelnen mit sich selbst, den kreativen Denkprozess, den Anfang zur Darstellung, kann das Selbst sich disziplinieren und ein Gewissen entwickeln. Im Sufismus hat der Islam dafür Traditionen entwickelt. Am anderen Ende der Skala der Möglichkeiten, die der Islam zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit anbietet steht der „Extremfall“ des „homo islamicus, den die Islamisten in Massenproduktion hervorzubringen streben: ein Roboter, der nicht denkt und dessen Betriebssystem Scharia heißt“, und der Ausdruck nur im Töten findet. Ein weiterer Extremfall sei die Auschwitz-Erfindung des in den Tod gefolterten „Muselmanns“, der im Assad-Gefängnis dahinsiecht und dem in der völligen Selbstaufgabe „nichts Menschliches mehr eigen ist.“ 

    An einer Stelle macht Saleh dann doch den Kulturvergleich: „Das arabische Kulturerbe bietet weniger Darstellungsoptionen als die westliche Moderne mit ihrer Vielsprachigkeit und ihrem Formenreichtum (…).“ Inwieweit der „Westen“ bei der Überwindung der Darstellungskrise Auswege bietet und inwieweit er das Leid und die Darstellungskrise (mit)verantwortet, wurde schon unter den Gefolterten und Gefangenen in Mustafa Khalifas autobiographischem Roman heiß diskutiert. Umso bitterer ist der Verrat, den die aus Syrien und anderen arabischen Ländern nach Deutschland und Europa geflüchteten Muslim:innen und Araber:innen im Westen empfinden müssen. Das eine sind die westlichen Pläne für das Immobilienparadies in Gaza, hilflos-verlogenes Händeringen, Unterstützung und Teilhabe am möglichen Genozid an den Palästinensern und die widerspruchslose Duldung der Invasionen und Bombenangriffe in Syrien. Das andere ist die Bedrohung der Möglichkeiten der Darstellung dieses Schrecklichen selbst. Sie werden durch politische Eingriffe in Wissenschaft, Kunst und Kultur und das Versagen der Öffentlichkeit immer weiter beschnitten. Die „Schande und Schmach“ und das „als unerträglich empfundene Trauma“ am Urgrund der Darstellungskrisen in der arabischen und muslimischen Welt haben eben doch ihre Entsprechungen „bei uns“ – und vielleicht sind sie, wenn wir es mit der Einzigartigkeit des Holocaust ernst meinen – noch weit schändlicher und schmachvoller als alles, was im vorislamischen oder islamischen Arabien je passieren konnte. Assad ist weg – aber das Schreckliche nicht. Ihm ins Auge zu sehen und menschlich zu bleiben, menschlich zu werden, das können wir von Yassin Al-Haj Saleh lernen. 

  • Wo ist unser Aufschrei?

    Wo ist unser Aufschrei?

    Francesca Albanese auf einer kurzfristig zur „Jungen Welt“ verlegten Veranstaltung am 19. Februar 2025, Screenshot des Livestreams.

    The English version of this text was published by Verfassungsblog.

    Liebe deutsche Völkerrechtler:innen, liebe Kolleg:innen,

    wir sind nicht immer einer Meinung. Dennoch habe ich das Bedürfnis, Euch zu schreiben. Ich weiß, dass Ihr viel zu tun habt. Ihr müsst Bücher schreiben, Konferenzen organisieren, Drittmittelanträge fertigstellen und die unbeantworteten E-Mails und Anfragen werden immer zahlreicher. Ich würde mich freuen, wenn Ihr einige Minuten erübrigen könntet. Die Dinge stehen derzeit nicht gut für das Völkerrecht. Ich denke, das seht Ihr genauso wie ich. Einige von Euch haben deutlich und unmissverständlich die Missachtung des Völkerrechts durch Politiker:innen angeprangert, die das Asylrecht angreifen, die europäische Menschenrechtsordnung und internationale Gerichte infrage stellen. Und natürlich habt Ihr Trumps eklatante Verachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bewohner:innen Grönlands und des Gazastreifens kritisiert.

    Doch die meisten von uns – mich eingeschlossen – halten sich eher bedeckt, wenn es um die zunehmenden Angriffe auf die Menschenrechte und das Völkerrecht in unserer unmittelbaren Umgebung geht, auch innerhalb der Universität. Die Liste der Ausladungen, Absagen, Kriminalisierungen und Repressionen gegen Personen, die die Rechte der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem verteidigen, wird immer länger. In den letzten vierzehn Tagen haben innerhalb weniger Tage zwei Universitäten – die LMU München und die Freie Universität Berlin – Veranstaltungen mit Francesca Albanese, der UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, abgesagt.

    Ist das nicht der Moment, in dem wir endlich unsere Stimme erheben sollten, auch wenn wir dies bisher aus Angst, einen falschen Schritt auf dem Minenfeld der Israel/Palästina-Debatte zu tun, nicht getan haben? Francesca Albanese ist unsere Kollegin. Sie erfüllt ein Mandat des Menschenrechtsrats und ist eine weltweit angesehene Völkerrechtlerin, die an Universitäten auf der ganzen Welt Vorträge hält. Regierungen behandeln UN-Sonderberichterstatter gewöhnlich so, wie sie ausländische Botschafter behandeln. Es ist bisher noch nie vorgekommen, dass die UN-Sonderberichterstatterin Albanese von einer Universität ausgeladen wurde.

    Wo bleibt unsere Empörung und Entrüstung, liebe Völkerrechtler:innen, über Albaneses Ausladung durch die LMU und die Freie Universität? Wo bleibt unser Aufschrei über die Verleumdungskampagne von Politikern und Interessengruppen gegen sie? Die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra gab per Pressemitteilung bekannt, „die Äußerungen von Frau Albanese [erfüllten] alle Kriterien des Antisemitismus.“ Weder hat sie diese Kriterien konkretisiert noch angegeben, auf welche Äußerungen von Albanese sie sich bezieht. Albanese wurde nicht nur als Antisemitin diffamiert, sondern auch mit Politikern der AfD verglichen und beschuldigt, den Terror der Hamas zu verherrlichen. Ein Artikel in der Jüdischen Allgemeinen war so infam, unter Bezugnahme auf den Namen der Gruppe, die die LMU-Veranstaltung organisierte – die Decolonial Practices Group – die Frage zu stellen, ob „Decolonial Practices“ auch Massaker wie das vom 7. Oktober 2023 einschließe.

    Der Präsident der Freien Universität Günter Ziegler beugte sich schließlich dem immer weiter steigenden Druck und der Intervention des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner. Er sagte die Präsenzveranstaltung ab und begründete diese Entscheidung wenig überzeugend mit der „gegenwärtigen Polarisierung und der unvorhersehbaren Sicherheitslage“. Er hielt an der akademischen Freiheit fest, aber nur in Worten, nicht in Taten, und verwies die Organisator:innen auf eine Online-Veranstaltung.

    Wo bleibt unser Aufschrei? Einige von Euch haben ihr Bedauern über diese Verletzung der Wissenschaftsfreiheit zum Ausdruck gebracht. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber ich habe auch einige Fragen. Warum habt Ihr das Bedürfnis, Eure Stellungnahme mit Vorbehalten zu versehen? Warum kritisiert Ihr in Eurer Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit das Konzept der Veranstaltung mit Francesca Albanese und Eyal Weizman „Lebensbedingungen, die auf Zerstörung ausgelegt sind. Rechtliche und forensische Perspektiven auf den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen“, die von vier Kolleg:innen – nicht aus dem Völkerrecht, sondern aus der Philosophischen Fakultät der FU –organisiert wurde? Ihr hättet Euch „eine Konzeption der Veranstaltung gewünscht, die nicht bereits im Titel das Ergebnis einer zu führenden Diskussion vorwegnimmt.“ Ich verstehe, dass Ihr die Veranstaltung anders konzipiert hättet; aber ist Eure Stellungnahme, die so dringend nötig ist, um die Wissenschaftsfreiheit gegen politische Intervention zu verteidigen, wirklich der richtige Ort für die Auseinandersetzung mit Kolleg:innen über die Gestaltung einer akademischen Veranstaltung?

    Das Mandat der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten besteht darin, „Israels Verstöße gegen die Grundsätze und Grundlagen des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Genfer Konvention vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen. Dies ist seit der Einrichtung der Position im Jahr 1993 der Fall. Francesca Albanese ist in ihrer Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass der Staat Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Als Völkerrechtler sollten wir sie dazu einladen, ihre Erkenntnisse zu erläutern. Wir sollten ihr zuhören. Dann können wir Fragen stellen und ein Gespräch führen. Aber wir sollten nicht versuchen, ein „faires Gleichgewicht“ zu erreichen, indem wir immer auch „die andere Seite“ einladen. Wollen wir unsere universitären Debatten wirklich in ein weiteres mittelmäßiges Talkshow-Format verwandeln?

    „Von antisemitischen Positionen distanzieren wir uns.“ Wir alle haben die Verantwortung, uns gegen Antisemitismus auszusprechen, wo und wann immer er auftritt. Natürlich! Doch in diesem Zusammenhang kann der Satz so verstanden werden, dass die Positionen der UN Sonderberichterstatterin tatsächlich oder möglicherweise antisemitisch sind. Angesichts des Schadens, der durch die derzeitige Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen, auch durch die extreme Rechte, angerichtet wird, sind bloße Andeutungen, dass jemand, der sich für Gerechtigkeit und internationales Recht einsetzt, antisemitische Handlungen begehen könnte, fahrlässig. Gestern wurde ein Ort in Berlin, an dem Francesca Albanese sprechen sollte, mit den Worten „Albanese, du bist eine Antisemitin“ beschmiert. Ich vertraue darauf, dass wir als Völkerrechtler:innen nicht, wie einige andere, schon die Erfüllung ihres Mandats als inhärent antisemitisch interpretieren. Wir machen uns mitschuldig an dieser Hexenjagd, wenn wir unbegründete Vorwürfe und Unterstellungen unwidersprochen stehen lassen.

    Ich möchte Euch einladen, Euch das Gespräch mit Albanese anzusehen, das die LMU-Arbeitsgruppe Dekoloniale Praktiken nicht an der LMU führen durfte und das deshalb von einem anderen Veranstaltungsort per Livestream übertragen und aufgezeichnet wurde. Während des gesamten Gesprächs erinnerte Francesca Albanese die Zuhörer:innen an die Verantwortung der Deutschen und der Europäer für den Holocaust und andere Völkermorde. Diese Verantwortung ist es, die ihre Arbeit motiviert und antreibt. Sie erinnerte ihr Publikum auch daran, dass die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland nicht auf Konzentrationslager beschränkt war und dass Juden auch nach dem Krieg weiterhin schwerer Diskriminierung und Antisemitismus in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten ausgesetzt waren (ich empfehle in diesem Zusammenhang wärmstens den Film The Brutalist). Sie verurteilt jegliche Gewalt gegen Zivilist:innen aufs Schärfste. Selten habe ich einer Völkerrechtlerin zugehört, die mit so viel Intelligenz und Witz spricht, die so gut darin ist, komplexe Sachverhalte auf zugängliche Weise zu erklären, die über ein so nuanciertes Urteilsvermögen, Selbstbeobachtung, Lern- und Zuhörbereitschaft, Furchtlosigkeit und Hingabe für Gerechtigkeit verfügt – nicht nur für Palästinenser:innen, sondern für alle Opfer von Unterdrückung.

    Während unsere Politiker und Universitäten es versäumen, einer UN-Sonderberichterstatterin Respekt zu zollen, lassen wir eine Kollegin und Lichtbringerin in diesen dunklen Zeiten im Stich, wenn wir uns nicht für sie und gegen falsche und unbegründete Anschuldigungen einsetzen. Vor allem aber versagen wir gegenüber unseren Studierenden, der Gesellschaft und der Idee der Menschenrechte, die – wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben sollen – den Machtlosen dienen müssen. Francesca Albanese wird auch ohne unsere Unterstützung zurechtkommen; ihr Amt wird ihr hoffentlich als Schutzschild dienen. Aber die Zeit ist vorbei, in der wir uns aus der Debatte darüber, was Antisemitismus ist, heraushalten konnten. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns mit Menschenrechten, humanitärem Recht, der Anwendung von Gewalt oder Wirtschaftssanktionen befassen und uns zugleich weigern konnten, uns mit Israel/Palästina auseinanderzusetzen.

    Es ist an der Zeit, endlich für die Menschenrechte und gegen die Mitverantwortung des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft für die Gewalt gegen Palästinenser:innen einzutreten – auch auf die Gefahr hin einige Freunde und Fördermittel zu verlieren. Die nächste Jahreskonferenz der European Society of International Law findet im September dieses Jahres an der Freien Universität in Berlin statt. Ihr Thema lautet „Reconstructing International Law“. Das Völkerrecht wird vor unseren Augen abgebaut, an den Universitäten und in den Straßen Berlins, während ich diesen Brief schreibe. Der Schaden wird nicht mit Konferenzen und Zeitschriftenartikeln behoben werden können. Lasst uns für einen Moment die unvollendeten Manuskripte und Anträge beiseitelegen und dafür sorgen, dass Francesca Albanese an deutschen Universitäten sprechen darf!

    Mit freundlichen Grüßen, eine Kollegin aus dem Völkerrecht