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  • Organisierte Verantwortungslosigkeit. Urteilen über Gaza im Licht von Auschwitz

    Organisierte Verantwortungslosigkeit. Urteilen über Gaza im Licht von Auschwitz

    Hannah Arendt 1958
    CC BY-SA 4.0; Münchner Stadtmuseum, Archiv Barbara Niggl Radloff

    Unmittelbar nach Kriegsende, 1945, verfasst Hannah Arendt einen Text mit dem Titel Organisierte Schuld. Es war einer der ersten Versuche, das nun nicht mehr zu Leugnende politisch und begrifflich zu fassen: den „Verwaltungsmassenmord“ an Millionen von Menschen und den systematischen und industriell betriebenen Versuch, das europäische Judentum zu vernichten. Für ihn brauchte es, wie Arendt schrieb, „nicht Tausende ausgesuchter Mörder“, weil „die totale Mobilmachung“ alle impliziert und so in der „totalen Komplizität des deutschen Volkes geendet“ habe.

    Arendt schrieb nicht als Historikerin oder unparteiische Zeugin, sondern als politische Denkerin. Als eine, die hinsieht – und urteilt. „Wirklich leben heißt, diese Gegenwart zu realisieren“, notiert sie wenige Jahre später. Sie fragte, wie es möglich gewesen war, dass so viele mitmachten und nur wenige widersprachen – und dass nach der bedingungslosen Kapitulation so viele nur vergessen wollten.

    Ihre These: Schuld wurde in der nationalsozialistischen Herrschaft nicht vertuscht oder verdrängt, sondern organisiert. Sie wurde aufgeteilt, entpersonalisiert, moralisch entkernt – um Verantwortung zu zersetzen. Die Linie, schreibt Arendt, die Schuldige von Unschuldigen trennt, wurde so effektiv verwischt, dass man kaum mehr unterscheiden können wird, wer Täter war und wer sich gegen das Morden gestellt hatte. Nicht der Einzelne trägt die Last des Unrechts, sondern alle – und damit keiner.

    „Jeder hat nur seine Pflicht getan“, sagten die Täter – ohne Zynismus, ohne Reue. Die eigentliche Leistung des Totalitarismus habe in der Produktion von Mittuenden gelegen. Sie kennen und empfinden keine Verantwortung und nehmen sich bloß als Teil einer Apparatur, einer Ordnung wahr. Arendt zitiert einen Lagerbuchhalter: „Haben Sie persönlich geholfen, Leute zu töten? Durchaus nicht. Ich war nur Zahlmeister im Lager. Was dachten Sie sich denn bei diesen Vorgängen? Zuerst war es schlimm, aber wir gewöhnten uns daran.“ 

    Wenn Schuld zur Funktion wird, wird Denken zur Störung. Genau das ist Arendts Pointe. Das Gewissen wurde nicht ausgeschaltet, es wurde überformt. Die Sprache nicht zerstört, sondern neu kodiert. Wörter wie „Lösung“, „Evakuierung“, „Umsiedlung“ dienten nicht der Täuschung, sondern der Entlastung. Mitreden war möglich – ohne zu wissen. Oder besser: ohne wissen zu wollen.

    Diese Diagnose zielt auf das Wesen des modernen Staates und seiner Bürokratie, die jede Handlung so in ein System einbindet, dass niemand mehr zu sagen braucht: Ich bin verantwortlich. Das war Arendts frühe Warnung – und sie ist so aktuell wie seit langem nicht mehr. Wir finden uns heute in einer Situation wieder, in der wir nicht mehr nur Zeug*innen, sondern Kompliz*innen, Teilnehmer*innen der Entgrenzung von Gewalt und der Verwischung von Verantwortung geworden sind.

    Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 sind wir in eine Dynamik hineinverwickelt, die jeder moralischen Sprache entgleitet – und zugleich durch Sprache legitimiert wird. Das Völkerrecht garantiert das Recht auf Selbstverteidigung – für Israel wie für die Menschen in Palästina. Es verpflichtet Staaten und bewaffnete Gruppen, das Leben Unbeteiligter zu schützen. Der bis heute nicht restlos aufgeklärte Angriff der Hamas auf Zivilist*innen und die Verschleppung von Geiseln nach Gaza waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gehören als solche geahndet. Dass die Erschütterung und Bedrohung der israelischen Gesellschaft – und jüdischer Gemeinden weltweit – als Blankoscheck genommen wurde, um mit weiterer Entgrenzung von Gewalt zu reagieren, treibt die Dynamik allerdings ins Bodenlose. 

    In Gaza ist nicht mehr zu leugnen, dass systematisch vorgegangen wird, um mit der völligen Zerstörung aller Infrastruktur, mit dem Aushungern der Bevölkerung, mit dem massenhaften Töten von Zivilist:innen und mit der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen dem palästinensischen Volk als Ganzes und in Teilen das Lebensrecht abgesprochen wird. Eine belagerte Todeszone – ohne Zuflucht, ohne Ausweg, ohne Zukunft. Eine immer größer werdende Zahl von Genozidforschern und Völkerrechtlern kommt zu dem Schluss, dass die Kriterien für einen Völkermord erfüllt sind.

    Und die Sprache? Sie funktioniert hervorragend. Sie spricht von „präzisen Schlägen“ oder „chirurgischen Operationen“, wo massenhaft Zivilist:innen sterben. Jedes getötete Kind ist für sie potentiell ein „human shield“ oder ein werdender „Terrorist“. Sie wiederholt gebetsmühlenhaft: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ – und erlaubt es, die Frage wegzudrücken, wie weit dieses Recht reicht, was es aufwiegt, wo es endet. Sie beteuert: „Wir tun, was notwendig ist“, und lässt vergessen, dass wir es sind, die weiter Waffen liefern.

    Wieder wird Verantwortung organisiert, damit niemand verantwortlich ist. Die USA liefern Waffen, Ressourcen, Infrastruktur, propagandistische Unterstützung, und während der Präsidentschaft von Joe Biden erklärten sie manchmal, sie hätten »rote Linien«, die aber folgenlos überschritten werden konnten. Die UNO warnt, zählt, dokumentiert – doch ihre Resolutionen verhallen. Die EU ringt um Formulierungen, ist gespalten. Die deutsche Regierung liefert ebenfalls Waffen, solidarisiert sich mit der israelischen Regierung selbst dort, wo ziviles Leben systematisch entwertet und zerstört wird, und äußert erst „Kritik“, wenn international Isolation droht – eine Kritik, die im übrigen wieder weitgehend folgenlos bleibt. 

    Verantwortung wird nicht offen geleugnet – sie wird verteilt, verwischt, abgegeben: durch Beteiligung, durch Sprache, durch Schweigen. Die strukturelle Gewalt – jahrzehntelange Besatzung, Blockade, die systematische Zerstörung von Infrastruktur und Ressourcen auch schon lange vor dem 7. Oktober – bleibt ausgeklammert. Stattdessen dominiert eine Rhetorik der Notwendigkeit und moralischen Selbstvergewisserung.

    Arendt wusste: Wer das politische Denken verteidigen will, muss die Sprache verteidigen. Nicht als Ornament, sondern als Ort des Urteils. Sie zeigte, wie gefährlich es ist, wenn Begriffe ihren moralischen Kern verlieren – und wie notwendig es ist, Unterscheidungen aufrechtzuerhalten: zwischen Täter und Opfer, Angriff und Verteidigung, Verhältnismäßigkeit und Vernichtungswille.

    Heute erleben wir eine sprachliche Regression: Kritik wird als bloße Weltanschauung abgetan, die Benennung von Gewalt gilt als Bedrohung. Wer das Unrecht gegen die Palästinenser:innen sichtbar macht, wird des Antisemitismus verdächtigt. Wer auf Gerechtigkeit besteht, gefährdet vermeintlich die Sicherheit. In dieser Umkehrung verengt sich das Sagbare – bis die Verteidigung der Welt im Arendtschen Sinne unmöglich wird. Denn was nicht erscheint, kann nicht zum Gegenstand gemeinsamen Handelns werden. Wo das Sagbare sich verengt, wird das Wirkliche neu gesetzt – denn in der Sprache des Krieges wird Realität nicht beschrieben, sondern gemacht. Begriffe wie „menschliche Schutzschilde“ machen letztlich die Opfer verantwortlich. Wer eine vollständige Belagerung als „Selbstverteidigung“ bezeichnet, verschiebt die Schuld dahin, wo die Toten verscharrt wurden.

    Diese Sprache ist funktional. Sie schafft Distanz, moralische Entlastung, Zustimmung. In Pressemitteilungen, Regierungserklärungen, sozialen Medien wird sie zur Munition: „Terror-Infrastruktur“, „sichere Zonen“, „präzise Operationen“. Jedes dieser Wörter steht zwischen uns und der Wirklichkeit und verhindert, dass wir sie realisieren, wie Arendt es forderte.

    Und an diesem Punkt berühren sich Geschichte und Gegenwart: Arendts Text entstand, als die Bilder aus den Lagern frisch waren und als Auschwitz nicht Abstraktion, sondern unmittelbare Gegenwart war. Sie schrieb gegen das kollektive Wegsehen, gegen die Bereitschaft, zur Tagesordnung überzugehen. Nicht im Namen der Vergangenheit, sondern im Namen einer Zukunft, die anders werden sollte. Heute ist historische Schuld eingefroren, ohne zu gegenwärtiger politischer Verantwortung zu führen. Auschwitz ist zum moralischen Besitzstand geworden. Die Nachkommen von Tätern treten heute als Gedenkwächter auf – und leiten daraus eine Verantwortung ab, die sich allein auf jüdisches Leben bezieht, nicht auf das palästinensische unter Bomben. Das ist keine Lehre aus der Geschichte – das ist ihre Instrumentalisierung. 

    Arendt lehnte jede sakrale Unverfügbarkeit von Geschichte ab. Erinnerung, die nicht ins Urteil und Handeln führt, wird zur moralischen Pose: „Nie wieder.“ Arendt hätte kritisch gefragt: Nie wieder was? Nur Auschwitz? Oder jegliche Entmenschlichung, Vertreibung, Entrechtung? Sie stritt dafür, Verantwortung plural und differenziert zu denken – nicht exklusiv, sondern inklusiv: Wer aus Auschwitz lernt, darf Entrechtung nirgendwo legitimieren. Auschwitz muss eine radikale ethische Mahnung bleiben: Jede Form der Entmenschlichung ist zu benennen, auch dann, wenn sie von einem Staat ausgeht, dem Deutschland historisch verpflichtet ist. Gerade dann.

    Arendt unterschied zwischen Schuld und Verantwortung. Schuld betrifft Täter:innen. Verantwortung betrifft alle, die Teil einer politischen Ordnung sind, und verpflichtet sie zu kritischem Denken, Unterscheidung, Urteilskraft. Sie erwächst nicht aus Identität, sondern aus dem Mit-Sein in der Welt. Wer in einer politischen Ordnung lebt, trägt Mitverantwortung – nicht, weil alle Täter:in sind, sondern weil alle Zugehörige sind.

    Arendt hätte nicht nach Lösungen gefragt, sondern nach Räumen des Handelns, in denen Verantwortung geteilt, Gewalt benannt, Alternativen hörbar werden. Solche Räume existieren, auf beiden Seiten, sowohl der israelischen als auch der palästinensischen, und im besten Fall auch beide Seiten verbindend. Aber auch sie sind in ihrer Existenz bedroht. Bereits 2021 hat Israel sechs palästinensische Menschenrechts-NGOs verboten, darunter Al Haq in Ramallah, eine Organisation, die viele Jahre lang Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten dokumentierte – begangen sowohl von Israel als auch von Palästinensern. Um das Verbot dieser NGOs zu rechtfertigen, wurde und wird sich der Sprache der „Sicherheit“ und der „Terrorbekämpfung“ bedient. Diese Sprache bezieht längst auch israelische NGOs ein, die sich für die Rechte von Palästinenser:innen einsetzen. Breaking the Silence und B’Tselem wurde schon 2016 vorgeworfen, „Verräter“ zu sein. Ein neues israelisches Steuergesetz will eine 80-Prozent-Strafsteuer auf ausländische (westliche!) Spenden für israelische NGOs erheben. Der Organisation Standing Together wurde im April von der israelischen Polizei verboten, Bilder von getöteten palästinensischen Kindern auf einer Demonstration zu zeigen. Und im Januar hatte noch die alte Bundesregierung den friedensaktivistischen Organisationen Zochrot und New Profile mitten im laufenden Projektzeitraum die außenpolitische Unbedenklichkeit und Förderfähigkeit entzogen.

    All dies dient nicht der Sicherheit Israels – ganz im Gegenteil -, sondern nur der Unterdrückung der Opposition gegen Menschenrechtsverbrechen. Die Sprache, die das verschleiert, schwächt unsere Urteilskraft. Aber urteilen zu können – das ist vielleicht die wichtigste politische Tugend, schrieb Arendt. Nicht Loyalität schützt die Demokratie, sondern die Fähigkeit, zu unterscheiden. Wer aus der Geschichte lernen will, darf sich nicht mit Gedenken begnügen. Jetzt gilt es zu handeln. Neu zu sprechen. Klar zu sprechen. Weil die Realität nicht durch Euphemismen entschärft werden darf. Arendt wusste das. Wer heute von Gaza spricht, sollte sie beim Wort nehmen. 

  • Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Foto: Hossam el-Hamalawy

    Syrien, wenige Monate nach dem Fall der Assad-Diktatur: Noch immer sind weit über 100.000 vom Regime entführte Opfer verschollen, fast täglich werden neue Massengräber entdeckt. Die meisten von ihnen zu Tode gefoltert; davon müssen zumindest die Angehörigen der Verschwundenen ausgehen. Zehntausende, die an dem Foltern und Morden beteiligt und in den „Politizid“ schuldhaft verstrickt waren, laufen frei herum. Für „transitional justice“ – seien es Gerichtsprozesse oder Wahrheitstribunale – gibt es auf absehbare Zeit keine Ressourcen, keine Kraft, keine Strukturen. Die von Assad über Jahrzehnte unterdrückte und ausgeplünderte Bevölkerung lebt in unbeschreiblicher Armut. Der Westen hält seine Sanktionen aufrecht, niemand im Westen protestiert gegen die völkerrechtswidrigen Invasionen und Bombardierungen durch Israel. Assad-Anhänger, die ihre Privilegien verloren haben, verüben immer wieder Anschläge auf die Sicherheitskräfte des neuen Regimes. Das neue Regime schafft es nicht, will es wohl auch nicht schaffen, eigene Leute und konkurrierende Banden von Rachefeldzügen gegen die Bevölkerungsgruppe abzuhalten, aus der die Assad-Anhänger vor allem stammen. Und auch wenn neuen Massakern Einhalt geboten werden sollte, droht am Horizont wieder ein neuer Genozid, diesmal an den Alewiten.

    Die Bundesrepublik hat über einer Million Menschen aus Syrien Zuflucht geboten, macht sich von der politischen Situation des Landes aber keine Vorstellung. Schnell begnügt man sich mit der bequemsten Erklärung: Syrien ist, so heißt es, eben ein Vielvölkerstaat in einem bald latenten, bald offenen Bürgerkrieg. Das Assad-Regime habe immerhin Minderheiten lange einen gewissen Schutz geboten, nun aber bedrohe die sunnitische Mehrheit in einer „nie dagewesenen Islamisierung“ Alewiten, Christen und Drusen. Diese Erklärung passt zu den Rechtfertigungsnarrativen der gescheiterten deutschen Syrienpolitik, die schon 2013 mit Verweis auf „Dschihadisten, Terroristen und Extremisten in Syrien“ und die von ihnen bedrohten „Alawiten und Christen“ dem mörderischen Regime nichts entgegensetzen wollte. 

    Die syrischen Intellektuellen und Studierenden, die den demokratischen Widerstand gegen das Assad-Regime 2011 und folgende mittrugen und nach 2013 nach Europa geflohen sind, erzählen aber eine andere, eine kompliziertere Geschichte; eine Geschichte, in die Europa und die USA immer schon verstrickt sind. Sie sprechen von ”Konfessionalisierung“ (auf englisch besser: „sectarianism“) und sehen die Ursachen dafür nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, im Dominanzanspruch des sunnitischen Islam, sondern in den Herrschaftstechniken, die das Assad-Regime in über 50 Jahren zur Perfektion gebracht hat. In einem 2022 auf Französisch erschienenen Schwarzbuch der Assads sind diese im Detail nachzulesen.

    Diese Herrschaftstechniken der Spaltung und der Unterdrückung und gleichzeitigen Instrumentalisierung von Identitäten wurden begleitet von systematischer, erfindungsreicher Folter als allgegenwärtiger Möglichkeit. Die Folter hatte seit Anfang der 1970er Jahre in „Suriya al-Assad“, dem mit Assad identifizierten totalitären Polizeistaat, allmählich von der ganzen syrischen Gesellschaft Besitz ergriffen und konnte seit dem Beginn der Revolution 2011 jeden treffen, auch Frauen und Kinder. Das verkörperte Wissen um die Folter und ihre allgegenwärtige Möglichkeit, in der Assad’schen Ausprägung, kam mit der Massenflucht aus Syrien seit 2013 nach Deutschland. Als ich 2015 meine ersten Begegnungen mit syrischen Geflüchteten hatte, war die Konfrontation mit der Allgegenwart der Möglichkeit von Folter in ihren Erzählungen, in ihren Körpern, das, was meine Sicht auf die Welt – auch auf meine Welt in Deutschland und Europa – am nachhaltigsten veränderte. Syrische Studierende erzählten mir Albträume, die ich nie vergessen werde. Der Filmproduzent Orwa Nyrabia zeigte den Dokumentarfilm Silvered Water. Syria Self-Portrait, der zahllose Handy-Aufnahmen nicht nur von Bombardierungen und Kriegsszenen, sondern auch von Gefängnisfolter zu einem Kunstwerk verarbeitet; unter lebensgefährlichem Einsatz der syrisch-kurdischen Dokumentarfilmerin Wiam Simav Bedirxan und der Regie des nach Paris geflüchteten Regisseurs Ossama Mohamed. Später las ich Mustafa Khalifas autobiographischen Roman Das Schneckenhaus 

    Ein hervorragender Opferzeuge und Denker dieses staatlichen Terrors ist der in Berlin lebende politische Autor und Journalist Yassin Al-Haj Saleh. Er hat 2023 bei Matthes & Seitz in deutscher Übersetzung ein Buch über die Folter in Syrien und ihre Darstellung herausgebracht, zu einem Zeitpunkt, als die Assad-Diktatur, die sich als „ewig“ bezeichnete, fester im Sattel zu sitzen schien denn je. Dass Assad jetzt Vergangenheit ist, macht das Buch aber nicht weniger aktuell. Die in dem Buch zu einem einheitlichen Werk zusammengefassten Texte waren zunächst auf arabisch in unterschiedlichen Kontexten erschienen. Sie zeigen Verbindungen zwischen der Folter, dem Konfessionalismus und dem Salafismus auf, die immer noch wirken und auch in den sogenannten Westen weisen. Yassin Al-Haj Saleh hat selbst während seiner 16jährigen Haft (noch unter dem Vater Assad, zwischen 1980 und 1996) Folter erfahren; verurteilt als Mitglied einer kommunistischen Partei. Die an ihm begangene Folter war so, dass sie keine irreversiblen Schäden hinterließ; er konnte sie überwinden. Doch wurde er Zeuge der schrecklichsten und fürchterlichsten Foltern, mit denen die Anhänger der Muslimbrüderschaft gebrochen werden sollten: Folter, von der kein Mensch ins Leben zurückkehren kann.

    Das Buch bietet nicht weniger als eine politische Anthropologie der Folter. Saleh unterscheidet zwischen Foltern, die ein Weiterleben nicht ausschließen, und solchen, die den Tod nach sich ziehen; den Tod unter Folter und den Tod durch Folter; Foltern, die an Individuen begangen werden, und Foltern, die ein Kollektiv treffen. Das Buch ist voll von solchen Unterscheidungen, um Folter systematisch zu begreifen. Saleh erdachte sich wohl schon während der Haft und dann nach seiner Entlassung die Konzepte und Begriffe und Typologien, um seine Erfahrungen nicht literarisch, sondern politologisch-sozialwissenschaftlich zu verarbeiten. Er ist ein vielbelesener Autodidakt, nicht Teil des akademischen Betriebs, aber auch kein Journalist im engeren Sinne. Sein Schreiben ist nicht berichtend oder kommentierend, sondern immer analytisch, ordnend, konzeptionell. Er will seine Leser:innen dazu bewegen, der allgegenwärtigen Möglichkeit von Folter kühl, nüchtern ins Auge zu blicken und sie als eine extreme Erscheinungsform politischer Gewalt zu verstehen, die durch das kollektive implizite Wissen um sie einen Kreislauf der Vernichtung in Gang setzt.

    Er unterscheidet phänomenologisch drei Folterarten, in Bezug auf die Grenzen, die sie überschreiten, und auf ihre intendierten Wirkungen: Erstens die klassische Ermittlungs- oder Verhörfolter, die die Grenzen des Gefolterten überschreiten, um Geständnisse oder Informationen zu erpressen. Hier hilft die Unterwerfung und der Verrat, um die Folter zu beenden. Zweitens die Demütigungs- und Rachefolter, oder auch die Abschreckungsfolter, die willkürlich und unberechenbar ist, die eine unvergessliche Lektion erteilen soll, die der Gesellschaft als Ganzes gilt, ihr den unbedingten Gehorsam einpflanzen und Resistenzen insgesamt auflösen soll. Und drittens die Vernichtungsfolter, die nicht nur die Grenzen der Gesellschaft, sondern die Grenzen der Menschheit überschreitet, in der es kein Ermessen mehr gibt, die eine organisierte Mordindustrie erfordert. Ihr reicht als Vergehen, dass der Gefolterte überhaupt existiert. 

    Weiterhin unterscheidet Saleh die verschiedenen Ebenen der Folter: die Beziehungsebene zwischen dem Folterer und dem Gefolterten, auf der die Folterhandlung stattfindet; die Ebene des Apparats, des Betriebs, den es für die Folter benötigt; die Systemebene – Folter als Staat und als Ökonomie; und schließlich die Ebene der Welt, die die Folter geschehen lässt, um sie weiß und dabei von der Folter zerstört wird. Die intime Kenntnis dessen, wie Folter im Assad’schen Syrien funktioniert hat und was sie anrichtet, offenbart sich in dem Buch in zahlreichen Beobachtungen, die die Schrecklichkeit der Folter anschaulich machen, ohne je blutige Einzelheiten auszubreiten. Er beschreibt die Psychologie der Folter, wo die Angst des Gefolterten dem Hass des Folterers gegenübersteht. Beide werden entmenschlicht, indem der Folterer in der Macht über den Körper Gott gleich wird, der Gefolterte hingegen zur Sache. Damit der Folterer in der Folterbeziehung standhalten und den kalten oder heißen Hass für das Foltern aufbringen kann, muss er den Gefolterten eines Verbrechens beschuldigen, und dieses Verbrechen liegt in der Abweichung von dem Willen Assads. Um vom Willen Assads abzuweichen, reicht es, ein Mensch zu sein. Der Folterer reklamiert bedingungslose Liebe zu Assad, ist total mit Assad identifiziert und fordert eine Unterwerfung, die nie genügt. Paradoxerweise erleichtert die Folter dem Mörder die Schuld, hier zitiert Saleh Primo Levi: „Bevor das Opfer starb, musste es erniedrigt werden, damit der Mörder das Gewicht seiner Schuld nicht so spürte.“ 

    In dem Ziel der Vernichtung von Gemeinschaften, der Überflüssigmachung von Menschen und der Vernichtung von Welthaltigkeit überhaupt sieht er die Gemeinsamkeit genozidaler Regime. Assad-Syriens Massenmorden war unterhalb eines industriellen Niveaus, ein „manufakturhaftes System“, nicht unpersönlich und systematisch wie unter den Nazis, sondern mit Hingabe betrieben, kreativ, direkten Körperkontakt erfordernd, Gewohnheiten und Neuerfindungen verbindend. Während die Todesökonomie der Nazis kapitalistisch und irrational gewesen sei, diente sie unter Assad, obwohl auch Syrien eine hochgradig bürokratisierte Diktatur war, der in die äußerste Konsequenz getriebenen Rentierwirtschaft einer Familienherrschaft. Folter, auch in der Form von Aushungern und der Verweigerung des Zugangs zu überlebenswichtigen Gütern, sowie in der Form des Bombenterrors und des willkürlichen Zufügens von Schmerzen durch gegen Zivilist:innen gerichtete Angriffe, steht mit genozidaler Vernichtung in einem merkwürdigen Verhältnis. Die Vernichtungsfolter foltert auf den ersten Blick unnötig, da die Opfer so oder so sterben werden; ihr Sinn liegt darin, dass die Gemeinschaft, die vernichtet werden soll, weiß, dass Folter schlimmer ist als der Tod. Sie erkennt aber auch an, dass sie es mit Menschen zu tun hat, die erst entmenscht werden müssen, bevor man sie tötet. Für den Holocaust hingegen war Foltern, auch wenn es häufig vorkam, keine Notwendigkeit, so Saleh: „Demgegenüber verspürten die Nazis keinerlei Notwendigkeit, die Juden zu foltern, behauptete ihre rassistische Theorie doch apriori, um das bösartige Wesen der Juden zu wissen, womit diese von vornherein von jeder Gleichheit ausgeschlossen waren“ und „wie Läuse“ betrachtet wurden, so ungleich und bereits entmenscht, dass sie sozusagen der Mühe der Folter nicht wert waren.  

    Saleh schreibt auch zum Zusammenhang von Folter und Vergewaltigung: Beides verleiht absolute Macht über den Körper. Die Folter an Männern in Syrien war vom gleichen Chauvinismus getrieben, fand in der gleichen machistischen Geschlechterordnung statt wie die Vergewaltigungen der Frauen, mit einer Männlichkeitsvorstellung, die mit der Folter den männlichen Konkurrenten ausschalten und mit der Vergewaltigung die Frau schrankenlos besitzen will. Die Vergewaltigung ist Teil der genozidalen Vernichtung, sie soll die Gemeinschaft unfähig zur Fortpflanzung machen, als „aufgeschobener Mord“. Saleh sieht im IS und im Assad-Staat zwei Varianten systematischer Vergewaltigung: Während im IS, religiös verbrämt, ein Mann viele Frauen besitzt und vergewaltigt, vergehen sich im angeblich säkularen Terrorstaat viele Männer an einer Frau. (Ob diese Unterscheidungen empirisch immer haltbar sind, ist eine andere Frage; man muss sie idealtypisch verstehen.) Die seit den 1970er Jahren sich sukzessive immer mehr durchsetzende Verschleierung von Frauen in Syrien ist jedenfalls nicht nur eine Begleiterscheinung der zunehmenden Islamisierung, sondern reagiert auch auf die Vergewaltigungsbedrohung im Folterstaat. 

    Die syrische Revolution in ihren Anfängen versteht Saleh als einen Kampf der Syrer:innen um die „Würde ihrer Körper“: um einer Staatsgewalt Grenzen zu setzen, die bei der Verletzung der Würde von Körpern zu jeder Grenzüberschreitung fähig war und bei der Bekämpfung der Revolution dann genau dies im Exzess demonstrierte. 

    Der sogenannte Westen, Nord-Amerika und Europa, hat der grausamen Niederschlagung der syrischen Revolution weitgehend tatenlos zugesehen. Die „roten Linien“, die Barack Obama 2012 für den Fall des Einsatzes von Chemiewaffen gezogen hatte, wurden 2013 mit den Sarin-Angriffen auf Ghouta und mit vielen weiteren chemischen Angriffen überschritten, ohne dass die USA auch nur eine Flugverbotszone über Syrien eingerichtet hätten. Der Anteil des „Westens“ an der Entstehung und Stabilisierung des Assad-Regimes geht aber noch weit über das bloße Zusehen von Kriegsverbrechen hinaus. Die Destabilisierungen der jungen Demokratien im Mittleren Osten bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch kolonialistische und imperialistische westliche Machtpolitik und Kriege, durch die Nakba und die sukzessiven Massenfluchtbewegungen aus Israel/Palästina und durch das Insistieren auf einem konfessionell gebundenen jüdischen Staat, der westlichen Interessen verbunden war, untergrub die Legitimation der rechtsstaatlichen und demokratischen Bestrebungen in den arabischen Ländern. Dem Anspruch und der konstitutionellen Form nach war Syrien seit 1946 eine nicht konfessionell gebundene Republik. Konfessionelle Zugehörigkeiten und Identitäten wurden geleugnet und unterdrückt. Gerade der angebliche Säkularismus machte Syrien und seine Machthaber nach dem Ende des Kalten Krieges im Westen akzeptabel. Dabei hatte die Assad-Familie seit ihrer Machtübernahme 1970 den syrischen Sicherheitsapparat und die meisten wichtigen Positionen mit ihr loyalen Alewiten besetzt, die Konfessionen systematisch gegeneinander ausgespielt, den Konfessionalismus angeheizt und ihn als Waffe eingesetzt. Nach dem Generationenwechsel von Vater auf Sohn Assad war es gerade diese Form der „Minderheitenprivilegierung“ und des Doppelstaates, die das Assad-Regime unter dem in London ausgebildeten Bashir al-Assad als modern und potentiell dem Westen zugewandt erscheinen ließ.

    Der „Krieg gegen den Terror“ seit 9/11 gab dem Kampf des Assad-Regimes gegen die Muslimbruderschaft und die Islamisten erst richtig Schubkraft. Auch wenn es der Iran und Russland waren, die die militärische Unterstützung lieferten, ohne die das Regime sich 2013 nicht hätte halten können und ohne die es im Dezember 2024 dann auch prompt kollabierte: Der im Westen produzierte antimuslimische Rassismus half dem Regime bei der Ausbildung und Erhaltung der mörderischen Kleptokratie. Für Kleptokratien sind Ethnien, Zugehörigkeiten und Konfessionen nur ein Instrument, um die Bevölkerung zu spalten und sich äußeren Mächten anzudienen; ein Vorwand, um jede Freiheitsregung zu unterdrücken und die unterworfene Bevölkerung auszuplündern. Das hat das Assad-Regime durch Erpressungen, Geiselnahmen, Raubüberfälle in bisher nicht gekanntem Ausmaß gemacht. Das kleptokratische Regime konnte sich nach außen als Schutzherr von Minderheiten gerieren, die es begrenzt privilegierte und die vor allem deshalb, wie von vornherein beabsichtigt, von der sunnitischen Mehrheit gehasst wurden. Die antimuslimische Aufladung der Terrorismusbekämpfung und der Rassismus, dem ein gut rasierter und gut gekleideter massenmordender Bashar al-Assad mit seiner hübschen, in England aufgewachsenen Frau „zivilisierter“ erscheint als ein bärtiger Islamist, den man auch ohne Fernsehton Allahu Akbar rufen hört, verschafften ihm die internationale Legitimation oder Duldung für seine Verbrechen. 

    Yassin Al-Haj Saleh nennt das den „konfessionell-rassistischen Komplex“: „die Welt der Identitäten und Abstammungen“, die das Umfeld für die Genozide bilden. In der Darstellung des Schrecklichen wird erkennbar, dass der Assad-Staat eben nicht nur ein syrischer Sonderfall war, sondern eine „strukturelle Entsprechung“ in den internationalen Beziehungen hat. Das Völkerrecht selbst zeigt hier seine asymmetrische Seite, die sich mit den Diktaturen an der Peripherie seiner tragenden Mächte arrangiert. Die Foltern des Assad-Regimes können überall blühen. Sie sind nur die letzte Konsequenz einer „modernen“ Haltung, die skrupellos und räuberisch die eigenen Interessen durchsetzt und sich dafür des Rassismus bedient. Sie sind im Grunde eine Neuauflage der Quälereien und Foltern des Kolonialismus, während noch vorhandene Bindungen an irgendwelche Vorstellungen von Recht nicht mehr nur versteckt, sondern offen aufgekündigt werden. Der Islamismus reagiert darauf, indem er sich „salafisiert“ und seinen eigenen konfessionell-rassistischen Komplex ausbildet. Die Geschichte des Assad-Folterstaats kann diejenigen unter uns, die nicht – oder nicht mehr oder noch nicht – vor Folter Angst haben müssen, lehren, Folter nicht mehr als das Problem von anderen zu externalisieren, sondern als Signatur von in Geiselhaft genommener, dysfunktionaler moderner (National)staatlichkeit zu verstehen. 

    Der letzte in dem Buch abgedruckte Text, vielleicht der interessanteste, widmet sich schließlich dem Problem der Darstellung von Folter und der Vermittlung des Schmerzes, die diesen erst kollektiv, das heißt politisch verarbeitbar macht. Saleh versteht Darstellung als eine „Kombination von Ausdruck (die Erfahrungs- bzw. Ideenachse) und Gestaltung (Überlieferungsachse)“. Gestaltung ist undenkbar ohne eine Überlieferung, in die sie sich einschreiben kann. Aber die Überlieferung kann selbst nicht die neuen Darstellungsformen bieten, die für den Ausdruck neuer Erfahrungen gebraucht werden. Die „Darstellung des Schrecklichen“ ist auf existierende Formenbestände des politisch-sozialen Denkens einerseits angewiesen, muss sie andererseits kreativ weiterentwickeln. Wie kann das dem arabischen politischen Denken der Gegenwart gelingen? Hier sieht Saleh das eigentliche Problem des Islamismus: Wie jede traditionalistische Ideologie ist er zwar durchaus gestalterisch, doch sein Ausdruck, seine Subjektivität, ist auf Konflikt und Negation beschränkt. Dem erfahrenen Leiden, dem Gefoltertwerden, den Traumata, kann er keine Bedeutung, keine Darstellung geben, weil das das islamistische Traditionsverständnis herausfordern würde. Alles Erlittene, so will es die Ideologie, darf nur im Rahmen des Überlieferten ausgedrückt werden. Saleh zitiert die marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri und Abdallah Laroui: Im arabischen Denken gebe es einen besonderen Mechanismus, der das „Verborgene“, das „Ungelöste“, das „Problem“ – all jenes eben, an dem man leidet – immer an einem „Beleg“ messe. „Der ‘Beleg’ ist in der islamischen Rechtslehre ein Thema, zu dem bereits ein religiöses Urteil vorliegt.“ Dieses Denken in Analogien validiert alle Erfahrung nur anhand eines vorliegenden, autoritativen Textes. Liegt für eine zu verarbeitende Erfahrung kein geeigneter Text vor, wird die Erfahrung zur Abweichung und muss aufgegeben und ausgegrenzt werden. Eine „Darstellungsverweigerung“ – von der Laroui annahm, dass sie selbst „von einem als unerträglich empfundenen historischen Trauma herrührt.“ Laroui hatte über ein in vorislamische Zeit zurückreichendes historisches Unglück spekuliert, eine „Schande und Schmach“, die mit der Entstehung der Sunna selbst verbunden gewesen sei. Die Sunna sind im Altarabischen die Gebräuche, Handlungsweisen und Normen, die die auseinandergesprengten arabischen Stämme zusammenhalten sollen. Der Islam hat sie religiös aufgeladen: die „Sunna“ des Propheten sind nach dem Koran die zweite Quelle des islamischen Rechts. 

    Saleh sieht die Geschichte der arabischen Welt voller gescheiterter Darstellungen. Auch seine eigene Anhängerschaft an den Kommunismus, von dem er sich erst unter dem Eindruck von Lektüren während der Haft löste, sieht er als ein verkürztes, den realen Erfahrungen nicht entsprechendes Denken und als einen Fall dieses Scheiterns. Und heute? „Es scheint, dass wir heute wieder mit einem enorm verletzenden Geschehen konfrontiert sind, welches auch diesmal wieder starke Abwehreffekte mit dem Ziel des Selbstschutzes hervorruft.“ Die Sunna breche einmal wieder auseinander. Die kollektive Identität der sunnitischen Muslime werde nur noch durch äußerst gewaltvolle, die Realitäten ausblendende Ideologie zusammengehalten. Alle über Generationen unterdrückte Ereignisse und Erfahrungen werden in dem Auseinanderbrechen freigesetzt, „sie treten als gestaltlose Bestien, Dämonen und Monstren auf, die ihrerseits von keiner Sunna eingehegt werden.“

    Was bräuchte es, damit das politische Denken in Deutschland und Europa sich liebevoll, zuhörend, menschlich dieser auch durch westliches Einwirken entstandenen Kette von Traumata und Darstellungskrisen in der arabischen Welt zuwendet? Und davon ablässt, durch Rassismus zu ihrer Fortsetzung beizutragen? Saleh beschreibt – ohne jemals zu psychologisieren – die Psychologie des Islamismus als eine ausweglose Situation der Gestaltlosigkeit, „einer nackten, bis ins Äußerste schmerzlichen Existenz“. Er verweist auf Hannah Arendts Überlegungen über das Nachdenken: nur durch den Dialog der Einzelnen mit sich selbst, den kreativen Denkprozess, den Anfang zur Darstellung, kann das Selbst sich disziplinieren und ein Gewissen entwickeln. Im Sufismus hat der Islam dafür Traditionen entwickelt. Am anderen Ende der Skala der Möglichkeiten, die der Islam zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit anbietet steht der „Extremfall“ des „homo islamicus, den die Islamisten in Massenproduktion hervorzubringen streben: ein Roboter, der nicht denkt und dessen Betriebssystem Scharia heißt“, und der Ausdruck nur im Töten findet. Ein weiterer Extremfall sei die Auschwitz-Erfindung des in den Tod gefolterten „Muselmanns“, der im Assad-Gefängnis dahinsiecht und dem in der völligen Selbstaufgabe „nichts Menschliches mehr eigen ist.“ 

    An einer Stelle macht Saleh dann doch den Kulturvergleich: „Das arabische Kulturerbe bietet weniger Darstellungsoptionen als die westliche Moderne mit ihrer Vielsprachigkeit und ihrem Formenreichtum (…).“ Inwieweit der „Westen“ bei der Überwindung der Darstellungskrise Auswege bietet und inwieweit er das Leid und die Darstellungskrise (mit)verantwortet, wurde schon unter den Gefolterten und Gefangenen in Mustafa Khalifas autobiographischem Roman heiß diskutiert. Umso bitterer ist der Verrat, den die aus Syrien und anderen arabischen Ländern nach Deutschland und Europa geflüchteten Muslim:innen und Araber:innen im Westen empfinden müssen. Das eine sind die westlichen Pläne für das Immobilienparadies in Gaza, hilflos-verlogenes Händeringen, Unterstützung und Teilhabe am möglichen Genozid an den Palästinensern und die widerspruchslose Duldung der Invasionen und Bombenangriffe in Syrien. Das andere ist die Bedrohung der Möglichkeiten der Darstellung dieses Schrecklichen selbst. Sie werden durch politische Eingriffe in Wissenschaft, Kunst und Kultur und das Versagen der Öffentlichkeit immer weiter beschnitten. Die „Schande und Schmach“ und das „als unerträglich empfundene Trauma“ am Urgrund der Darstellungskrisen in der arabischen und muslimischen Welt haben eben doch ihre Entsprechungen „bei uns“ – und vielleicht sind sie, wenn wir es mit der Einzigartigkeit des Holocaust ernst meinen – noch weit schändlicher und schmachvoller als alles, was im vorislamischen oder islamischen Arabien je passieren konnte. Assad ist weg – aber das Schreckliche nicht. Ihm ins Auge zu sehen und menschlich zu bleiben, menschlich zu werden, das können wir von Yassin Al-Haj Saleh lernen. 

  • Wo ist unser Aufschrei?

    Wo ist unser Aufschrei?

    Francesca Albanese auf einer kurzfristig zur „Jungen Welt“ verlegten Veranstaltung am 19. Februar 2025, Screenshot des Livestreams.

    The English version of this text was published by Verfassungsblog.

    Liebe deutsche Völkerrechtler:innen, liebe Kolleg:innen,

    wir sind nicht immer einer Meinung. Dennoch habe ich das Bedürfnis, Euch zu schreiben. Ich weiß, dass Ihr viel zu tun habt. Ihr müsst Bücher schreiben, Konferenzen organisieren, Drittmittelanträge fertigstellen und die unbeantworteten E-Mails und Anfragen werden immer zahlreicher. Ich würde mich freuen, wenn Ihr einige Minuten erübrigen könntet. Die Dinge stehen derzeit nicht gut für das Völkerrecht. Ich denke, das seht Ihr genauso wie ich. Einige von Euch haben deutlich und unmissverständlich die Missachtung des Völkerrechts durch Politiker:innen angeprangert, die das Asylrecht angreifen, die europäische Menschenrechtsordnung und internationale Gerichte infrage stellen. Und natürlich habt Ihr Trumps eklatante Verachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Bewohner:innen Grönlands und des Gazastreifens kritisiert.

    Doch die meisten von uns – mich eingeschlossen – halten sich eher bedeckt, wenn es um die zunehmenden Angriffe auf die Menschenrechte und das Völkerrecht in unserer unmittelbaren Umgebung geht, auch innerhalb der Universität. Die Liste der Ausladungen, Absagen, Kriminalisierungen und Repressionen gegen Personen, die die Rechte der Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem verteidigen, wird immer länger. In den letzten vierzehn Tagen haben innerhalb weniger Tage zwei Universitäten – die LMU München und die Freie Universität Berlin – Veranstaltungen mit Francesca Albanese, der UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, abgesagt.

    Ist das nicht der Moment, in dem wir endlich unsere Stimme erheben sollten, auch wenn wir dies bisher aus Angst, einen falschen Schritt auf dem Minenfeld der Israel/Palästina-Debatte zu tun, nicht getan haben? Francesca Albanese ist unsere Kollegin. Sie erfüllt ein Mandat des Menschenrechtsrats und ist eine weltweit angesehene Völkerrechtlerin, die an Universitäten auf der ganzen Welt Vorträge hält. Regierungen behandeln UN-Sonderberichterstatter gewöhnlich so, wie sie ausländische Botschafter behandeln. Es ist bisher noch nie vorgekommen, dass die UN-Sonderberichterstatterin Albanese von einer Universität ausgeladen wurde.

    Wo bleibt unsere Empörung und Entrüstung, liebe Völkerrechtler:innen, über Albaneses Ausladung durch die LMU und die Freie Universität? Wo bleibt unser Aufschrei über die Verleumdungskampagne von Politikern und Interessengruppen gegen sie? Die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra gab per Pressemitteilung bekannt, „die Äußerungen von Frau Albanese [erfüllten] alle Kriterien des Antisemitismus.“ Weder hat sie diese Kriterien konkretisiert noch angegeben, auf welche Äußerungen von Albanese sie sich bezieht. Albanese wurde nicht nur als Antisemitin diffamiert, sondern auch mit Politikern der AfD verglichen und beschuldigt, den Terror der Hamas zu verherrlichen. Ein Artikel in der Jüdischen Allgemeinen war so infam, unter Bezugnahme auf den Namen der Gruppe, die die LMU-Veranstaltung organisierte – die Decolonial Practices Group – die Frage zu stellen, ob „Decolonial Practices“ auch Massaker wie das vom 7. Oktober 2023 einschließe.

    Der Präsident der Freien Universität Günter Ziegler beugte sich schließlich dem immer weiter steigenden Druck und der Intervention des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner. Er sagte die Präsenzveranstaltung ab und begründete diese Entscheidung wenig überzeugend mit der „gegenwärtigen Polarisierung und der unvorhersehbaren Sicherheitslage“. Er hielt an der akademischen Freiheit fest, aber nur in Worten, nicht in Taten, und verwies die Organisator:innen auf eine Online-Veranstaltung.

    Wo bleibt unser Aufschrei? Einige von Euch haben ihr Bedauern über diese Verletzung der Wissenschaftsfreiheit zum Ausdruck gebracht. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber ich habe auch einige Fragen. Warum habt Ihr das Bedürfnis, Eure Stellungnahme mit Vorbehalten zu versehen? Warum kritisiert Ihr in Eurer Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit das Konzept der Veranstaltung mit Francesca Albanese und Eyal Weizman „Lebensbedingungen, die auf Zerstörung ausgelegt sind. Rechtliche und forensische Perspektiven auf den anhaltenden Völkermord im Gazastreifen“, die von vier Kolleg:innen – nicht aus dem Völkerrecht, sondern aus der Philosophischen Fakultät der FU –organisiert wurde? Ihr hättet Euch „eine Konzeption der Veranstaltung gewünscht, die nicht bereits im Titel das Ergebnis einer zu führenden Diskussion vorwegnimmt.“ Ich verstehe, dass Ihr die Veranstaltung anders konzipiert hättet; aber ist Eure Stellungnahme, die so dringend nötig ist, um die Wissenschaftsfreiheit gegen politische Intervention zu verteidigen, wirklich der richtige Ort für die Auseinandersetzung mit Kolleg:innen über die Gestaltung einer akademischen Veranstaltung?

    Das Mandat der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten besteht darin, „Israels Verstöße gegen die Grundsätze und Grundlagen des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Genfer Konvention vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen. Dies ist seit der Einrichtung der Position im Jahr 1993 der Fall. Francesca Albanese ist in ihrer Arbeit zu dem Schluss gekommen, dass der Staat Israel einen Völkermord an den Palästinensern verübt. Als Völkerrechtler sollten wir sie dazu einladen, ihre Erkenntnisse zu erläutern. Wir sollten ihr zuhören. Dann können wir Fragen stellen und ein Gespräch führen. Aber wir sollten nicht versuchen, ein „faires Gleichgewicht“ zu erreichen, indem wir immer auch „die andere Seite“ einladen. Wollen wir unsere universitären Debatten wirklich in ein weiteres mittelmäßiges Talkshow-Format verwandeln?

    „Von antisemitischen Positionen distanzieren wir uns.“ Wir alle haben die Verantwortung, uns gegen Antisemitismus auszusprechen, wo und wann immer er auftritt. Natürlich! Doch in diesem Zusammenhang kann der Satz so verstanden werden, dass die Positionen der UN Sonderberichterstatterin tatsächlich oder möglicherweise antisemitisch sind. Angesichts des Schadens, der durch die derzeitige Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen, auch durch die extreme Rechte, angerichtet wird, sind bloße Andeutungen, dass jemand, der sich für Gerechtigkeit und internationales Recht einsetzt, antisemitische Handlungen begehen könnte, fahrlässig. Gestern wurde ein Ort in Berlin, an dem Francesca Albanese sprechen sollte, mit den Worten „Albanese, du bist eine Antisemitin“ beschmiert. Ich vertraue darauf, dass wir als Völkerrechtler:innen nicht, wie einige andere, schon die Erfüllung ihres Mandats als inhärent antisemitisch interpretieren. Wir machen uns mitschuldig an dieser Hexenjagd, wenn wir unbegründete Vorwürfe und Unterstellungen unwidersprochen stehen lassen.

    Ich möchte Euch einladen, Euch das Gespräch mit Albanese anzusehen, das die LMU-Arbeitsgruppe Dekoloniale Praktiken nicht an der LMU führen durfte und das deshalb von einem anderen Veranstaltungsort per Livestream übertragen und aufgezeichnet wurde. Während des gesamten Gesprächs erinnerte Francesca Albanese die Zuhörer:innen an die Verantwortung der Deutschen und der Europäer für den Holocaust und andere Völkermorde. Diese Verantwortung ist es, die ihre Arbeit motiviert und antreibt. Sie erinnerte ihr Publikum auch daran, dass die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland nicht auf Konzentrationslager beschränkt war und dass Juden auch nach dem Krieg weiterhin schwerer Diskriminierung und Antisemitismus in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas und den Vereinigten Staaten ausgesetzt waren (ich empfehle in diesem Zusammenhang wärmstens den Film The Brutalist). Sie verurteilt jegliche Gewalt gegen Zivilist:innen aufs Schärfste. Selten habe ich einer Völkerrechtlerin zugehört, die mit so viel Intelligenz und Witz spricht, die so gut darin ist, komplexe Sachverhalte auf zugängliche Weise zu erklären, die über ein so nuanciertes Urteilsvermögen, Selbstbeobachtung, Lern- und Zuhörbereitschaft, Furchtlosigkeit und Hingabe für Gerechtigkeit verfügt – nicht nur für Palästinenser:innen, sondern für alle Opfer von Unterdrückung.

    Während unsere Politiker und Universitäten es versäumen, einer UN-Sonderberichterstatterin Respekt zu zollen, lassen wir eine Kollegin und Lichtbringerin in diesen dunklen Zeiten im Stich, wenn wir uns nicht für sie und gegen falsche und unbegründete Anschuldigungen einsetzen. Vor allem aber versagen wir gegenüber unseren Studierenden, der Gesellschaft und der Idee der Menschenrechte, die – wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben sollen – den Machtlosen dienen müssen. Francesca Albanese wird auch ohne unsere Unterstützung zurechtkommen; ihr Amt wird ihr hoffentlich als Schutzschild dienen. Aber die Zeit ist vorbei, in der wir uns aus der Debatte darüber, was Antisemitismus ist, heraushalten konnten. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns mit Menschenrechten, humanitärem Recht, der Anwendung von Gewalt oder Wirtschaftssanktionen befassen und uns zugleich weigern konnten, uns mit Israel/Palästina auseinanderzusetzen.

    Es ist an der Zeit, endlich für die Menschenrechte und gegen die Mitverantwortung des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft für die Gewalt gegen Palästinenser:innen einzutreten – auch auf die Gefahr hin einige Freunde und Fördermittel zu verlieren. Die nächste Jahreskonferenz der European Society of International Law findet im September dieses Jahres an der Freien Universität in Berlin statt. Ihr Thema lautet „Reconstructing International Law“. Das Völkerrecht wird vor unseren Augen abgebaut, an den Universitäten und in den Straßen Berlins, während ich diesen Brief schreibe. Der Schaden wird nicht mit Konferenzen und Zeitschriftenartikeln behoben werden können. Lasst uns für einen Moment die unvollendeten Manuskripte und Anträge beiseitelegen und dafür sorgen, dass Francesca Albanese an deutschen Universitäten sprechen darf!

    Mit freundlichen Grüßen, eine Kollegin aus dem Völkerrecht