Koloniale versus antikoloniale Überschreitungen der Grenze zwischen Zivilisten und Kombattanten

Nicola Perugini: Between Anti-Colonial Resistance and Colonial Genocide: Gaza at the Limits of International Law, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History, November 2025, S. 1–14, doi:10.1080/03086534.2025.2578214.

Peruginis Artikel zeigt auf einen blinden Fleck im humanitären Völkerrecht hinsichtlich der Anerkennung antikolonialer Kriege. Das Völkerrecht legitimiert in begrenztem Maße antikoloniale Gewalt, in den Zusatzprotokollen von 1977, die das Recht auf bewaffneten Kampf gegen koloniale Besatzung institutionalisiert haben. Perugini zufolge beruht diese Anerkennung aber auf einem statischen, staatszentrierten Regelwerk, in dem die Zivilperson als passives, unparteiisches Opfer imaginiert wird, das Schutz benötigt, und sich nur der Kombattant im antikolonialen Widerstand auch gewaltsam für die Abschaffung der kolonialen Besatzung und Herrschaft einsetzt. Aus der Geschichte wissen wir jedoch, dass antikoloniale Bewegungen das Prinzip der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten im humanitären Völkerrecht immer in Frage gestellt haben, indem sie die Grenze zwischen beiden in einem kollektiven Kampf verwischten. Aus der Perspektive der Kolonisierten fordert Perugini daher eine „Dekolonisierung der Zivilbevölkerung” im Völkerrecht. Für Perugini zwingt uns diese Perspektive, „die Zivilbevölkerung als eine Figur des Widerstands und nicht der Passivität zu betrachten.” (S. 2)

Im Kontext des anhaltenden Völkermords Israels in Gaza entscheidet die Unterscheidung zwischen Zivilist:innen und Kombattant:innen über Leben und Tod für die meisten Bewohner:innen Gazas, sicherlich für alle Männer und sogar für männliche Kinder. Wie Perugini hervorhebt, nutzt Israel genau diese Unterscheidung, um all diejenigen ungestraft zu töten, die es wagen, die Grenze zwischen Zivilist:innen und Kombattant:innen zu verwischen. Das aktuelle Beispiel eines lokalen ZDF-Auftragnehmers veranschaulicht ebenfalls, wie Israel und deutsche Medien die gezielte Bekämpfung von Journalist:innen rechtfertigen, indem sie deren Zivilistenstatus in Frage stellen.

Konkret verweist Perugini unter Bezugnahme auf den Völkermord Israels in Gaza auf zwei dialektisch miteinander verflochtene Formen der Transgression, die im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht stehen. Einerseits verschmelzen antikoloniale Kräfte in ihrem antikolonialen Kampf die zivilen und die militärischen Sphären, beispielsweise durch die Infrastruktur von Tunneln, die sowohl kommerziellen als auch militärischen Zwecken dienen. Mit dem Tunnelbau haben palästinensische Widerstandsgruppen die Unterscheidung unterlaufen, um durch „unterirdische Kriegsführung“ (S. 7) „die Asymmetrie des Schlachtfeldes herauszufordern“. Andererseits nutzt der Staat Israel genau diese Nicht-Unterscheidung, um „das kolonisierte Volk als Volk zu vernichten”. Nach Perugini verdeutlichen beide Verstöße gegen das Völkerrecht die Grenzen des Völkerrechts sowie die Beziehung zwischen kolonialem Völkermord und antikolonialem Widerstand in siedlerkolonialen Kontexten.

Peruginis Aufruf zur Dekolonialisierung des Zivilisten im humanitären Völkerrecht eröffnet uns ein tieferes Verständnis, warum antikolonialer Widerstand die Verwischung zwischen Zivilsten und Kombatanten bedingt, und wie das humanitäre Völkerrecht es Israel ermöglicht, das Recht aufSelbstverteidigung gegen die Kolonisierten zu beanspruchen, indem es den Kolonisierten ihr eigenes Recht auf Selbstverteidigung verweigert. „Diese Umkehrung von Aggression und Verteidigung ist zentral für die koloniale Logik des Völkermords.“ (S. 10)

https://doi.org/10.1080/03086534.2025.2578214