Andreas Engelmann: Über die erstaunliche Rückkehr der Staatsräson im Gewand der Moral, Etos, 22. August 2024.
Jura-Studierende lernen im ersten Semester, was auch wir bisher für eine selbstverständliche Errungenschaft der Bundesrepublik gehalten haben: dass das Gewaltmonopol des Staates sich von dem Gewaltmonopol eines Räuberhauptmanns durch rechtsstaatliche Kontrolle, durch die Bindung an Recht und Gesetz unterscheidet – und durch sonst gar nichts. Der Juraprofessor Andreas Engelmann nimmt das aus feudalen Zeiten (Macchiavelli!) stammende Konzept der Staatsräson rechtstheoretisch und historisch auseinander und wundert sich über seine Renaissance heute. Dass es im Zusammenhang mit der besonderen Verpflichtung Deutschlands für den Staat Israel heute „im moralischen Gewand“ erscheint, ändert nichts an seiner Räuberhaftigkeit: Es legitimiert, dass Staats- und Regierungsinteressen über Recht, Gesetz und auch über die Moral gestellt werden können. Ohne rechtliche Bindung gibt es nichts, was eine Regierung daran hindern würde, verbrecherisch zu werden. In den Antisemitismusresolutionen des Bundestags geht es nur vordergründig um den Schutz jüdischen Lebens; tatsächlich erlauben sie Staat und Politik, Regierungswünsche über die Verfassung zu stellen. Mit dem Werkzeug der Resolution, die angeblich unverbindlich ist, kann der Staat die Durchsetzung seiner Interessen gegenüber Einzelpersonen und Gruppen einer gerichtlichen Überprüfung entziehen. Dass der Staat von den Bürger:innen erwartet, ihm zu glauben, dass er nur Gutes wolle, ist Teil des Problems. „Vor einer Räuberbande muss man beweisen, dass man auf dem ‚Boden‘ der von ihr gesetzten Ordnung steht. Was bedeutet es, wenn die Regierung eine Prüfung vorsieht, ob ihre Bürger*innen ‚auf dem Boden des Grundgesetzes‘ stehen? In einem Rechtsstaat (…) hat man der Regierung nichts zu beweisen. Ob das auch für die Bundesrepublik gilt, wird von Tag zu Tag zweifelhafter.“
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