Völkerrecht in Zeiten des zunehmenden Autoritarismus

„Professor Schabas: US, Germany, and Others Could Be Held Liable as Accomplices to Genocide in Gaza” [„Professor Schabas: Die USA, Deutschland und andere Staaten könnten als Komplizen des Völkermords in Gaza haftbar gemacht werden”], interviewt von Selcuk Gultasli, 30. August 2025, European Center for Populism Studies, https://www.populismstudies.org/professor-schabas-us-germany-and-others-could-be-held-liable-as-accomplices-to-genocide-in-gaza/.

Die Normen des Völkerrechts und Völkerstrafrechts sprechen im Zusammenhang mit Israels militärischem Vorgehen und der Siedlungsgewalt in den besetzten palästinensischen Gebieten, deutlich wie eigentlich nie im Recht, eine klare Sprache. Menschenverachtende Politiken nicht nur in Israel, sondern gerade auch in Deutschland übertönen diese Normen allerdings in einer Weise, die es zunehmend schwieriger macht, mit der Kraft des besseren Arguments zu überzeugen und, seien wir ehrlich, auch nur die erdrückende Faktenlage zu benennen.

In einem ausführlichen Interview mit dem European Center for Populism Studies (ECPS) gibt Professor William Schabas – einer der weltweit führenden Experten für internationales Strafrecht und Völkermordstudien und Professor an der Middlesex University – eine detaillierte Einschätzung der sich zuspitzenden Krise in Gaza aus der Perspektive des Völkerrechts, der Populismusforschung und der globalen Governance. Als Nachkomme einer Familie von Holocaust-Überlebenden warnt Professor Schabas, dass Gaza ein „Lackmustest“ für die Glaubwürdigkeit der internationalen Justiz und die Autorität globaler Rechtsinstitutionen sei.

Interviews, in denen diejenigen, die ihr ganzes Leben der Auslegung und Klärung des Rechts gewidmet haben, zu Wort kommen, sind in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Sie können die relevanten völkerrechtlichen Normen, deren Verhandlung vor verschiedenen Gerichten und ihre Relevanz für die Politiken von Staaten auch nicht rechtlich geschulten Leser*innen nachvollziehbar machen, ohne an Komplexität einzubüßen. Schabas bietet Leser*innen solides Fachwissen an und zeigt juristisch klare Argumentationsketten auf.

Mit Blick auf den Völkermordsvorwurf und den Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen stellt Schabas klar, dass Gerichts- und Ermittlungsverfahren wie die momentan vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem internationalen Strafgerichtshof (IStGH) anhängigen ganz konkrete Auswirkungen auf die Entscheidungen einzelner nationaler Behörden und Politiker*innen haben und haben müssen. Denn ein Völkermord ist kein vereinzeltes Ereignis, er setzt sich immer aus einer Reihe von Handlungen und Entscheidungen vieler Akteure zusammen, und ihn zu verhindern, liegt in der Verantwortung aller Staaten, die sich mit dem Völkermord-Übereinkommen von 1948 einem „Nie wieder“ verpflichtet haben. Dabei – und das stellt auch Schabas fest – gab es Völkermorde schon lange vor diesem völkerrechtlichen Übereinkommen, vor allem auch als Teil kolonialer Expansion und einer rassistischen Logik. Diese entziehen sich der vereinfachenden historischen Einordnung eines Davor und Danach einer vermeintlich friedens- und menschenrechtsbasierten liberalen Nachkriegsordnung und prägen die gegenwärtige Weltlage nach wie vor.

Der Fall Südafrika gegen Israel vor dem IGH ist „wohl der schwerwiegendste Fall von Völkermord, der jemals vor dem Gerichtshof verhandelt wurde“. Schabas argumentiert, dass sich die Absicht zum Völkermord sowohl aus dem militärischen Vorgehen Israels als auch aus Aussagen hochrangiger israelischer Beamter, wie beispielsweise den Äußerungen von Verteidigungsminister Yoav Gallant über die Unterbrechung der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom in Gaza, ableiten lasse. „Wir haben mehr als nur ein Verhaltensmuster – wir haben auch Aussagen und klare Hinweise auf eine Politik.“ Unter Bezugnahme auf die gängige Spruchpraxis des IGHs sind dies alles Anhaltspunkte, die bei der endgültigen Beurteilung berücksichtigt werden müssen.

Laut Schabas machen sich möglicherweise auch Drittstaaten – die USA, Deutschland, Kanada und andere – gemäß Artikel III der Völkermordkonvention wegen der Unterstützung Israels durch militärische und politische Hilfe strafbar. Er warnt: „In dem Maße, in dem sie materielle Hilfe von erheblicher Bedeutung leisten, können sie als Mittäter des Völkermords zur Verantwortung gezogen werden.“

Jetzt sei ein entscheidender Moment für das ganze weitere Schicksal der internationalen Justiz wie dem IGH und dem IStGH. Die Nichtanwendung einheitlicher Standards im Falle der Zerstörung Gazas berge die Gefahr, dass sich ein „zweigeteiltes System des Völkerrechts“ verfestige und die Menschenrechte weltweit untergraben würden: „Diese Institutionen sind absolut verwundbar und sie sind sich dessen bewusst. Gaza ist ein Test für ihre Glaubwürdigkeit und Autorität.“

Bei all diesen Punkten nimmt sich Schabas nicht nur die Zeit, die rechtlichen Fragen verständlich zu erläutern, sondern stellt sie auch in den Zusammenhang größerer weltpolitischer und rechtspolitischer Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten und ihren Weltbildern und Wertesystemen. Gerade der IGH, so Schabas, sei in letzter Zeit nach Perioden der grundsätzlichen Einvernehmlichkeit vermehrt Schauplatz solcher Auseinandersetzungen geworden, in denen sich zunehmend die Widersprüchlichkeit und Fragilität nicht nur der internationalen Gerichte, sondern der gesamten normativen und institutionellen Basis der Vereinten Nationen zeige – mit einem Sicherheitsrat, der nicht weiter entfernt von dem Ideal sein könne, eine auf Gleichheit basierende Repräsentanz der gesamten internationalen Gemeinschaft zu sein.

In einem breiteren Kontext von Debatten über Populismus, Autoritarismus und internationale Rechenschaftspflicht formuliert das Interview einen dringenden Aufruf zum Umdenken in Bezug auf rechtliche, institutionelle und politische Rahmenbedingungen zur Verhinderung von Massengräueltaten. Doppelte Standards, wie sie gegenwärtig mehr denn je in Recht und Politik angelegt werden, sind eben nicht nur unfaire Anwendung des Rechts und ungleiche Verteilung von rechtlicher Verantwortlichkeit und effektiver Strafverfolgung. Doppelte Standards befördern und erzeugen die illegitime Macht der wenigen über die vielen und sind Grundpfeiler eines jeden Autoritarismus, der am Ende alle Personen seiner entmenschlichenden Logik unterwirft.

Schabas plädiert dafür, dies zu verhindern, solange es noch geht.

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