Alexandra Senfft: Ignorierte Opfer. Sinti und Roma kämpfen weiter um die Erinnerung an den NS-Völkermord, Forum Wissenschaft (2025) 1, 29-32.
Das Bekenntnis Deutschlands zur Erinnerung an den Holocaust und zu den historischen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Jüdinnen und Juden ist inzwischen weitgehend ritualisierter Bestandteil staatspolitischen Auftretens. Für die andere Opfergruppe, die der Nationalsozialismus vollständig vernichten wollte, die Sinti und Roma, gelten diese deutschen Bekenntnisse weit weniger, obwohl sie mit gleicher brutaler Systematik entrechtet und ermordet wurden wie Jüdinnen und Juden. Nach dem Krieg blieb eine Anerkennung des Porajmos, des Genozids an ihnen, lange Zeit aus. Bis heute erfahren sie Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung und stehen bei Anlässen des kollektiven Erinnerns meistens am Rand – wenn sie überhaupt in Erscheinung treten.
Alexandra Senfft schildert als einen besonders aufschlussreichen Fall die Auseinandersetzungen um das Denkmal im Berliner Tiergarten, das an die vom NS-Regime ermordeten Sinti und Roma erinnert. Erst 2012 konnte es – nach langem institutionellem Widerstand und zähem Hinhalten der Politik – eingeweiht werden. Die Gestaltung stammt vom israelischen Künstler Dani Karavan (1930–2021), der eine aus Klang, Skulptur und Natur zusammengesetzte Architektur, umgeben von Bäumen, schuf. Doch seit 2020 planen der Senat und die Deutsche Bundesbahn eine neue S-Bahn-Trasse „S21“, deren zweiter Bauabschnitt das Denkmal untertunneln wird. Zunächst sollte das Denkmal dafür vollständig abgetragen, dann vorübergehend entfernt werden. Es wurde schließlich eine Lösung gefunden, die die Architektur selbst halbwegs intakt halten wird, aber man muss damit rechnen, dass die umliegenden Bäume, die integraler Teil des Konzepts sind, gefällt werden. Für viele Sinti und Roma bedeutet das eine Entweihung des Ortes.
Der 2021 verstorbene Dani Karavan trug 2020 den Protest der Sinti und Roma mit und beklagte, „dass man mit dem (2005 eröffneten) Denkmal für die ermordeten Juden Europas niemals so umgegangen wäre“. Senfft beschreibt, wie Karavan schon bei der Arbeit an dem Denkmal stark aufgefallen war, „dass Romanes-sprachige Menschen als Opfer zweiter Klasse betrachtet werden: ‚Als Jude kann ich das sagen. Man interessiert sich für die Sinti und Roma nicht.‘“ Die Familie Karavans hat im Juli 2024 einen Protestbrief gegen die S-Bahn-Trasse mitinitiiert, der von zahlreichen Kunst- und Kulturschaffenden unterzeichnet wurde. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, dass die Risiken einer Beschädigung des Denkmals ernstgenommen würden – obwohl man wohl froh sein muss, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.
Ich finde diesen Fall aus zwei Gründen besonders interessant, die in dem Beitrag nicht reflektiert werden: Zum einen zeigt der Einsatz der Familie Karavan eine opferübergreifende Solidarität, die man auch in vielen anderen Konstellationen beobachten kann. Angehörige von Holocaustopfern setzen ihre Positionalität ein, um Angehörigen von Opfern des Porajmos zu helfen. Es setzen sich auch heute Juden, jüdische Israelis für Palästinenser:innen ein; Ukrainer:innen sind ebenfalls mit Palästinenser:innen solidarisch, Rom:nja ebenso; Palästinenser:innen solidarisieren sich wiederum mit Sudanes:innen, usw. Aus der gemeinsamen Erfahrung der Marginalisierung und Entrechtung und des drohenden oder vollzogenen Genozids entsteht Widerstand gegen die Versuche der Mehrheitsgesellschaft, die Opfergruppen gegeneinander auszuspielen und die einen gegenüber den anderen zu privilegieren.
Zum anderen weist der Fall weist aber auch noch darüber hinaus. Es hat für die Durchsetzung und den Erhalt des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungskultur sicherlich sehr geholfen, ja, war möglicherweise entscheidend, dass Dani Karavan Jude war; dass er auch Israeli war, mag weiterhin nützlich gewesen sein. Aber dieser Einsatz jüdisch-israelischer Positionalität in der deutschen Erinnerungskultur ist voller Ambivalenz. Karavans erste große Denkmal-Architektur war ein Monument für die Palmach-Brigade in der Negev-Wüste, in der Nähe von Beersheba in den Jahren 1963 bis 1968 erbaut – ein Ensemble aus Beton, Wüstenakazien, Wasser und Windorgeln. Die Palmach waren zionistisch-gemäßigte Paramilitärs, die vor der Gründung Israels mit den Briten zusammenarbeiteten und einerseits Siedlungen gründeten und verteidigten, andererseits die zionistisch-extremistischen Terrororganisationen der Irgun bekämpften. Wenn die Schlacht bei El-Alamein gewonnen worden und Nazi-Deutschland in Palästina einmarschiert wäre, hätten die Palmach die dort lebenden Juden gegen ihre sichere Ermordung im Holocaust verteidigt. Stattdessen kämpften sie im Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Staaten und waren maßgeblich an der Nakba beteiligt. In der Negev, wo Karavans Denkmal an die Palmach erinnertsteht, übernahmen sie die ethnische Vertreibung der palästinensischen Bedouinen aus ihren Dörfern; diese hatten 48 Stunden Zeit, um sich nach Gaza zu begeben. Als Karavan 1963 mit der Arbeit an dem Denkmal begann, war es gerade erst 15 Jahre her, dass die gesamte arabische Bevölkerung Beershebas vertrieben oder in Massakern getötet worden war.
Aus einer verengten antizionistischen Perspektive mag die Positionalität Karavans und seine Annahme von Staatsaufträgen wie für das Palmach-Denkmal ihn für ein Denkmal an die ermordeten Sinti und Roma disqualifizieren. Ich sehe es aber anders: Ich würde mir wünschen, dass eine ganzheitliche Problematisierung dieser erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Zusammenhänge möglich wäre. Das Denkmal im Tiergarten ist für die Gemeinschaft der Roma und Sinti wichtig und wird von den Angehörigen der Opfer als ein Ort des Gedenkens angenommen – während das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ von Anfang an, nach den Worten Paul Spiegels, nur „das offizielle Denkmal der Bundesrepublik Deutschland“ war, und kein „Gedenkort der Juden in Deutschland“. Der Wunsch der Rom:nja nach einem respektvollen, und das heißt auch nicht ritualisierten, nicht bürokratisierten und nicht politisierten Umgang mit dem Denkmal muss respektiert werden. Gleichzeitig sollte der Preis, der für eine staatliche Anerkennung des Opferstatus in der offiziellen Erinnerungskultur immer bezahlt werden muss, und den in diesem Fall wieder einmal die Palästinenser:innen zahlen, reflektiert werden. Denn nur so kann man verhindern, dass die Solidarität zwischen Opfergruppen exklusiv wird und ihrerseits Marginalisierung hervorbringt.