Sowohl in KriSol-internen Debatten als auch beispielsweise in einem Interview mit Omer Bartov im deutschsprachigen Jacobin wurde zuletzt deutlich, dass es innerhalb Palästina-solidarischer Bewegungen erhebliche Vorbehalte gegen den Kriegsbegriff gibt. Stattdessen wird die moralische und politische Beurteilung der Massengewalt gegen Gaza und seine Bevölkerung an den juristischen Genozidbegriff geknüpft – und das obwohl schon länger zu beobachten ist, dass Mitglieder der Bundesregierung diesen Begriff gezielt nutzen, um gerade keine Konsequenzen aus der Gewalt zu ziehen. Sie verweisen darauf, dass erst noch die Gerichte entscheiden müssen, ob tatsächlich ein Genozid verübt wurde oder nicht, oder ignorieren journalistische Nachfragen zu Konsequenzen angesichts des Völkermords mittlerweile gleich gänzlich. Letzteres war etwa in einer Regierungspressekonferenz kurz nach Beginn des fragilen Waffenstillstands im Oktober 2025 der Fall, in der es unter anderem um Erwägungen des Bundeskanzlers zur Wiederaufnahme uneingeschränkter Rüstungsexporte nach Israel ging. Schon länger zeigt sich also, dass sich allein mit dem Genozidbegriff nur schlecht politischer Druck aufbauen lässt. Noch dazu ist keinesfalls sicher, dass die Gerichte in ein paar Jahren tatsächlich urteilen werden, dass die israelische Regierung einen Genozid in Gaza begangen hat.
Es besteht also reichlich Grund zu der Sorge, dass eine diskursive Verengung auf den Genozidbegriff nicht nur aktuell, sondern insbesondere auch in Zukunft zur Abwehr von Verantwortung und Negierung der Massengewalt genutzt werden kann. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für die strategische Aufwertung eines empirisch-analytischen Kriegsbegriffs, der auf beobachtbare Empirie verweist, dabei die politische Bedeutung empirischer Evidenz unterstreicht und sich nicht von juristischen Urteilen abhängig macht.
Genozidaler Krieg ist nicht weniger grausam als Völkermord
Der Begriff „Krieg“ wird gerade von denjenigen, die die Massengewalt gegen Palästinenser:innen auf das Schärfste verurteilen und dringend politische Konsequenzen fordern, oft als unangemessen gewertet. Es wird kritisiert, „Krieg“ impliziere Symmetrie – einen Konflikt zwischen zumindest in etwa gleich handlungsfähigen Seiten – und ermögliche so in der Beurteilung der Massengewalt gegen Gaza bothsidesism (so auch in etwa die Begründung der Ablehnung in dem oben verlinkten Interview mit Bartov). Wir teilen die Kritik an bothsideism. Zugleich widersprechen wir als Friedens- und Konfliktforscherinnen dem Eindruck, dass Kriege per se symmetrisch sind. Empirisch ist dies definitiv nicht der Fall.
„Krieg“ bezeichnet in erster Linie den Umstand, dass Gewalt massenhaft ausgeübt und erlitten wird. Zugegeben: in der quantitativen Forschung wird der Begriff tatsächlich vor allem an der Zahl kampfbasierter Todesfälle („battle-related deaths“) festgemacht, wodurch suggeriert wird, dass Krieg vor allem aus Kampfhandlungen zwischen gegnerischen Seiten bestehe. Die Idee ist hierbei, dass bewaffnete Akteure (mindestens einer von ihnen eine staatliche Armee) einander bekämpfen und dass dabei sowohl Kombattant:inen als auch (unabsichtlich oder in Kauf nehmend) Zivilist:innen getötet werden (siehe etwa Uppsala Conflict Data Program). Allerdings werden solche Definitionen innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung schon lange kritisiert und als unterkomplex bzw. die tatsächlichen Kriegsdynamiken nicht hinreichend abbildend betrachtet. Auf Gaza beispielsweise, wo Zivilist:innen und zivile Infrastruktur direkt und unmittelbar angegriffen, getötet und zerstört wurden, passt die Vorstellung offensichtlich nicht. Direkte Angriffe auf die Zivilbevölkerung gibt es zudem auch in Kriegen, für die sich empirisch keine genozidalen Logiken ausmachen lassen, die also nicht gezielt die Lebens- und Überlebensbedingungen der Angehörigen einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe zerstören, um hier einmal eng bei der Genozidkonvention zu bleiben. Beispiele für nicht-genozidale Gewalt gegen die Zivilbevölkerungen finden sich etwa im Rahmen militärischer Interventionen – man denke an die US-Drohnenkriege und den unsäglichen Begriff der „collateral damage“ – und auch in Bürgerkriegen, in denen gerade nicht-staatliche bewaffnete Akteure sich zuweilen über Gewalt gegen die Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, Arbeitskräften und Zwangsrekrut:innen versorgen.
Wenn wir in solchen Situationen dennoch von „Krieg“ sprechen und schreiben, so trägt dies nicht zuletzt dem Umstand Rechnung, dass Massengewalt global und historisch betrachtet nur selten symmetrisch war, und dass sie sehr häufig direkt gegen Zivilbevölkerungen gerichtet wurde und wird. Sämtliche Formen kolonialer, und dabei oft genozidaler, Gewalt seit dem 16. Jahrhundert könnten hier als Beispiele dienen. Insofern ist einseitige Massengewalt tatsächlich kein Sonderfall. Eher trifft dies auf den symmetrische Kampf zwischen uniformierten Armeen zu, der in westlichen Vorstellungen fälschlicherweise (nur dank Eurozentrismus) das Bild von Kriegen geprägt hat.
Wir schlagen deshalb vor, den Kriegsbegriff nicht rundheraus abzulehnen, sondern ihn von eurozentrischen Annahmen symmetrischer Gewalt befreit zu nutzen, um die Relevanz empirisch belegter Gewalt in den Vordergrund zu rücken. Der Vorteil eines solchen Begriffs ist, dass mit ihm massenhafte Gewalt in ganz unterschiedlichen Ausprägungen als moralisch und politisch relevant gekennzeichnet werden kann – denn „Krieg“ ist eine menschengemachte Katastrophe, und der Begriff signalisiert, dass hier Handeln nötig ist. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, empirisch zu klären, was die zentralen Charakteristiken des jeweiligen Krieges sind. Ein Vorschlag für die empirische Beschreibung der massenhaften Gewalt in Gaza ist „genozidaler Krieg“: also Massengewalt, an der sich anhand empirischer Beobachtungen plausibel auf Vernichtungsabsichten schließen lässt. Gegenüber Genozid hat „genozidaler Krieg“ den Vorteil, dass er nicht von Gerichten bestätigt werden muss, sondern sich allein auf umfangreich dokumentierte, empirische Beobachtungen stützt – was in der Politik üblicherweise sehr wohl als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage ausreicht! Mit der Verwendung des Kriegsbegriffs kann und sollte also Argumenten entgegengetreten werden, man müsse Gerichtsprozesse abwarten, bevor zum Beispiel Entscheidungen über Konsequenzen im Verhältnis zur israelischen Regierung getroffen werden können. Wie auch immer die Gerichte entscheiden, allein die empirischen Belege sollten Beweis genug sein, dass ein genozidaler Krieg geführt wurde und dass dieser ebenso inakzeptabel ist wie ein gerichtlich festgestellter Völkermord.
Hiermit sind wir schließlich bei der de facto Hierarchisierung von Leid, die auch Dirk Moses umtreibt und ohne Frage ein Kernproblem des juristischen Genozidbegriffs ist. Dieser soll das schlimmste aller Verbrechen beschreiben und ist dabei so eng gefasst ist, dass die allermeiste Massengewalt nicht darunter gefasst werden kann und so zwangsläufig als „weniger schlimm“ gekennzeichnet wird. Auch hier könnte der Kriegsbegriff langfristig korrigierend wirken, indem er einer solchen Hierarchisierung entgegenwirkt.
Diskursiv mehrgleisig fahren
Selbstverständlich ist es auch weiterhin sinnvoll den Genozidbegriff zu nutzen, insbesondere um die Geltung des Völkerrechts einzufordern. Unser zentraler Punkt ist daher, dass es für die Palästina-solidarische Bewegungen unklug ist, politisch und moralisch alles auf eine Karte zu setzen – noch dazu auf das bekannterweise selektiv wirksame und von kolonialen Logiken durchzogene Völkerrecht! Wir sollten diskursiv mehrgleisig fahren, um einer Situation zu entkommen, in der zentrale Akteure Verantwortung für schwerste Verbrechen von sich weisen, und in der die moralische und juristische Verurteilung so eng miteinander verwoben sind, dass zukünftige Freisprüche schlimmstenfalls einer Reinwaschung gleichkämen. Der Begriff „genozidaler Krieg“ gibt uns diese Möglichkeit.