Leyla Dakhli: Étudier les mondes arabes et musulmans, un métier à risque?, in: Le Club de Mediapart, 18 Novembre 2025, https://blogs.mediapart.fr/leyladakhli/blog/181125/etudier-les-mondes-arabes-et-musulmans-un-metier-risque.
Das Canceln des Kolloquiums zu Palästina und Europa, das vom Lehrstuhl für Zeitgeschichte der arabischen Welt des Collège de France und dem Centre Arabe de Recherches et d’Ètudes Politiques de Paris (CAREP) am 13./14. November organisiert wurde, verletzt – so wird gesagt – die akademische Freiheit. Das ist schon richtig, aber was bedeutet es in diesem speziellen Fall?
Die Reduzierung dieser Debatte auf eine Frage der akademischen Freiheit ruft bei mir und vielleicht auch bei einigen meiner Kolleg:innen eine gewisse Frustration hervor. Denn dadurch wird eine andere, fundamentalere Frage ausgeklammert, nämlich die nach den Grenzen, innerhalb derer man heute über die aktuelle Situation und die Geschichte der zeitgenössischen arabischen Welt überhaupt sprechen kann. Was heute im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Gaza, der Besiedlung des Westjordanlands und der Golanhöhen sowie den zahlreichen Angriffen der israelischen Armee auf souveräne Gebiete diskutiert wird, ist ja nicht neu.
Für uns „Expert:innen der Region” ist der Umgang mit den Medien oft eine Übung in Fassungslosigkeit, angesichts der mit Ignoranz gepaarten Selbstgewissheit unserer journalistischen Gesprächspartner – und ich spreche hier noch nicht einmal von unseren zahlreichen akademischen Kollegen, die auf andere Themen spezialisiert sind und uns erklären wollen, dass wir Aspekte der Geschichte der Region verschweigen oder übertreiben würden, nur weil sie gerade irgendwo etwas dazu gelesen haben. Es liegt mir fern, besserwisserisch zu sein, aber ich stelle fest, dass dieselben Journalist:innen mehr Offenheit und Neugierde an den Tag legen, wenn es um andere Regionen der Welt und andere Epochen der Geschichte geht. Als ob hier der Vermittlungskanal zwischen der Produktion von überprüftem, bewiesenem und validiertem Wissen und dem allgemein vorhandenen Wissen in der Gesellschaft und in der öffentlichen Meinung gestört sei; als ob in der Wissenschaftskommunikation grundsätzlich etwas aus dem Lot geraten sei.
Denn man kann ja nicht sagen, dass nicht über den Nahen Osten gesprochen und geschrieben würde. Und vielleicht glaubt gerade deshalb jede:r, Bescheid zu wissen. Man kann auch nicht behaupten, dass es nicht viele Spezialist:innen für die arabische Welt, darunter sehr hochkarätige, gäbe, beispielsweise in Frankreich. Diese Spezialist:innen debattieren tatsächlich untereinander und die Debatten reflektieren einige der Spannungen, die die Welt der Forschung wie die französische Gesellschaft aufwühlen. In ihnen geht es aber um die Feststellung der Wahrheit; es geht um Methoden und um Forschungsfragen. (Hier wird von der akademischen Freiheit im strikten Sinn gebraucht gemacht, innerhalb der Grenzen der wissenschaftlichen Überprüfung und des Einspruchs.) Diese wissenschaftlichen Diskussionen ermöglichen es auch, sich zu einigen. So sind beispielsweise im akademischen Bereich die israelische Besatzung und die israelische Kolonialisierung einfach feststehende Tatsachen und kein Gegenstand von Polemik. Hier ist es möglich, über den Zusammenhang zwischen Zionismus und europäischem Kolonialismus zu diskutieren, oder mit dem Begriff Apartheid zu arbeiten, um zu beschreiben, wie jüdische und nichtjüdische Gesellschaften in der räumlichen Einheit Israel-besetzte Gebiete voneinander getrennt sind. Hier ist es zulässig, den bewaffneten Arm der Hamas als bewaffneten Widerstand zu bezeichnen. Das auszusprechen bedeutet nicht, die nihilistische Gewalt dschihadistischer Gruppen zu leugnen oder alles auf eine Stufe zu stellen. Aber es ermöglicht auch einen Vergleich zwischen Besatzungssituationen und Reaktionen auf Besatzungen weltweit. Der Fokus auf friedliche Bewegungen ist eine Option, aber die Realität vor Ort sieht nun einmal anders aus und konfrontiert uns damit, dass der bewaffnete Weg immer Teil der Geschichte von Widerstand ist, in Palästina wie anderswo. Man kann in der Diskussion Unterschiede zwischen den bewaffneten ukrainischen Widerstandskämpfern, den kurdischen Widerstandskräften in Rojava und den dschihadistischen Gruppen herausarbeiten. Aber es ist nicht ehrlich, einen Vergleich zwischen ihnen kategorisch abzulehnen, Begriffe wie Widerstand für den Fall der Hamas zu verbannen und nur für Erfahrungen anderswo zu reservieren. Aber hier liegt eine der Grenzen, die in der öffentlichen Debatte unmöglich zu überschreiten ist.
Was passiert also mit uns, die wir der Übeltaten beschuldigt werden, nur weil wir über den Stand der Forschung, den aktuellen wissenschaftlichen Konsens berichtet haben? Wie sollen wir das verstehen? Dass nun jedes Wort, das wir sagen, Gegenstand eines Gerichtsprozesses werden soll?
Aus der Beobachtung dessen, was sich seit Monaten und Jahren vollzieht, und den zahlreichen Kontroversen darüber möchte ich einige Lehren ziehen:
Zunächst einmal wird uns gesagt, dass nicht jede:r berechtigt sei, diesen wissenschaftlichen Konsensdiskurs zu führen. Dieselbe Analyse, die von eine:r palästinensischen oder arabischen Forscher:in aus der Region erstellt wurde, wird oft erst dann zugelassen, wenn sie von einem europäischen oder israelischen Forscher validiert wurde. So war es bereits bei den Untersuchungen zu den Massakern von 1948, die von palästinensischen Historiker:innen und Zeug:innen dokumentiert und beschrieben worden waren, aber erst dank der Arbeit sogenannter revisionistischer israelischer Historiker akzeptabel wurden. Das galt natürlich auch für die Verwendung des Begriffs „Völkermord” zur Beschreibung der Massaker in Gaza, die zunächst von palästinensischen Zeug:innen und Journalist:innen, dann von internationalen NGOs und schließlich von israelischen Persönlichkeiten und westlichen Forscher:innen der Genocide Studies angeprangert wurden. Warum werden die Palästinenser nicht für würdig erachtet, selbst festzustellen und zu benennen, was ihnen widerfährt? Könnte man das erklären, wenn eine europäische Gesellschaft von den Verbrechen betroffen wäre?
Dann wird uns gesagt, und vielleicht ist dies für die akademische Frage der zentrale Punkt, dass die Wahrheit nicht wirklich zählt. Was zählt, ist Ausgewogenheit. Eine komische Vorstellung, wenn man darüber nachdenkt. Eigentlich müssten wir, immer wenn wir beschreiben und darlegen, was wir über eine soziologische oder historische Realität untersucht haben, immer jemanden hinzuziehen, die oder der eine gegenteilige These vertritt. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst regelmäßig machen musste, als ich in den 2010er Jahren gelegentlich in den Medien zum Thema Syrien befragt wurde. Wenn ich auf der Grundlage der verfügbaren Forschungsergebnisse die Funktionsweise der Macht oder der syrischen Gesellschaft erklärte, wurde mir von Pseudo-Experten widersprochen, die Unsinn über “Konfessionalismus” und “Radikalisierung” und was weiß ich noch alles erzählten, und das alles im Namen der Ausgewogenheit und der Konfrontation von Standpunkten. Und natürlich ohne jegliche Distanz, ohne ihre Sichtweise auf die Gesellschaft dem zuzuordnen, was sie war, nämlich der Propaganda des Regimes. Wenn ich heute höre, wie vorsichtig meine Kolleg:innen zum Thema Ukraine und Russland befragt werden, auch wenn nichts perfekt ist, kann ich die Distanz ermessen.
Ist es also wirklich die akademische Freiheit, um die es hier geht, wenn man die Wissenschaftlichkeit eines Kolloquiums am Collège de France in Frage gestellt wird? Oder ist es nicht vielmehr die erkennbare ultimative, unverhohlene (und zurecht skandalisierte) Verachtung, mit der wissenschaftliche Arbeiten über diesen Kulturraum betrachtet werden? Diese Arbeiten sind sicherlich nicht alle perfekt, aber sie basieren auf Wissen, auf oft mühsam erworbenen Kompetenzen, auf Vertrautheit mit oft schwierigen und anspruchsvollen Gebieten, zu denen die Forscher:innen manchmal auch eine persönliche, emotionale Bindung haben. Und hier liegt ein weiterer, letzter Faktor, den ich aus der Beobachtung der Kontroversen herausarbeiten möchte: Bei Forscher:innen, die sich mit der arabischen Welt beschäftigen, weckt die Tatsache, dass sie eine starke Verbindung zu ihrem „Forschungsgebiet” haben, Misstrauen. Dabei ist es gerade diese Vertrautheit, die eine der großen Ressourcen darstellt, auf die sich die französische und europäische Forschung stützen kann. Empathie ist eine notwendige Eigenschaft für gute Forschung, ebenso wie Kritik, das Lesen von Quellen in der Originalsprache oder stringente Schlussfolgerungen. Diese verschiedenen Eigenschaften, die bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Wahrheit in Spannung zueinander stehen, sind genau diejenigen, die das einzig sinnvolle Gleichgewicht gewährleisten. Auch hier gibt es zahlreiche Beispiele aus anderen Bereichen, die die Bedeutung der Nähe zum Forschungsgebiet unterstreichen. Würde es uns überraschen, wenn ein:e französische:r Forscher:in, die sich auf Deutschland spezialisiert hat (oder umgekehrt), längere Aufenthalte dort verbringt, Kooperationen und Freundschaften aufbaut und manchmal sogar ihr Leben dort verbringt?
Wenn heute die Forschung insgesamt durch alle möglichen Formen des Relativismus und Angriffe auf die Wahrheit bedroht ist, so werden diese Angriffe in Bezug auf die wissenschaftliche Produktion über die arabische Welt noch verstärkt durch den Verdacht der „Kollaboration” mit einem als innerlich konstruierten Feind, dessen fünfte Kolonne wir angeblich sind. Der Name dieses Feindes variiert: Islam, „Muslimbruderschaft”, neuer Antisemitismus, Wokismus… Oder eine Kombination aus all dem, die unsere Arbeit, die Ermittlung von Fakten und Funktionsmechanismen, buchstäblich mit Füßen tritt und die Grundlage unserer libido sciendi, d. h. unseren Willen, diese Gesellschaften zu verstehen, zu beschreiben und sie in ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen vertrauter zu machen, einem Generalverdacht aussetzt.