Wie die Anerkennung Palästinas in Frankreich debattiert wird

Die Anerkennungswelle Palästinas durch westliche Staaten, bei der Deutschland nicht mitgemacht hat, verdankt sich der Initiative Frankreichs. Präsident Macron ist innenpolitisch isoliert, in vieler Hinsicht gescheitert und unbeliebt, aber seine Außenpolitik zeigt diplomatische Führungsstärke. Das hat auch dazu beigetragen, dass der Diskurs in Frankreich wieder einmal weiter und offener ist als der in Deutschland. Man kann in Frankreich bereits etwas kritisieren, das in Deutschland noch nicht erreicht ist. Eine Gruppe von Jurist:innen und Professor:innen, am prominentesten Rafaëlle Maison, Professorin für Internationales Recht an der Université Paris-Saclay, beschäftigt sich mit den potentiell negativen Folgen, die aus der rein symbolischen Anerkennung eines de facto nicht existierenden Staates – das Staatsterritorium ist von israelischen Siedlungen zerfressen, die Staatsgewalt ausgehöhlt, das Staatvolk einem Genozid ausgesetzt – drohen. Rafaëlle Maison hat am 11. September einen Artikel veröffentlicht, der die Fallstricke einer Anerkennung ausbuchstabiert, und am 13. September der Plattform Le Média ein Interview gegeben, um die „Schattenzonen“ von Macrons Plan auszuleuchten. Jede Anerkennungspolitik sollte daran gemessen werden, ob sie dem für das Internationale Recht fundamentalen Selbstbestimmungsrecht der Völker dient oder schadet.

In dem Interview zitiert Maison aus dem Brief, den Macron am 25. August 2025 an Netanjahu geschrieben hat. Macron rechtfertigt darin seine Entscheidung: „Our determination to ensure that the Palestinian people have a State is rooted in our belief that a lasting peace is essential to the State of Israel’s security“. Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen findet in dem Brief keine Erwähnung. Das Pferd wird von hinten aufgezäumt: Die Rechte der Palästinenser:innen werden nur als eine Funktion der Sicherheit eines ethnisch-national definierten Israels verstanden; nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel. Mit diplomatischer Rücksichtnahme gegenüber Netanjahu alleine ist das nicht zu erklären. In seiner Rede vor der UN Generalversammlung am 22. September bekannte sich Macron zwar ausdrücklich, anders als in dem Brief, zu den „legitimen Rechte(n) des palästinensischen Volkes“, und sprach von dem „Volk, das in seiner Geschichte, seiner Verwurzelung und seiner Würde Kraft findet“. Und trotzdem führte er auch hier als Hauptgrund für die Anerkennung die französische Loyalität zu Israel an: „Gerade weil wir überzeugt davon sind, dass diese Anerkennung die einzige Lösung ist, die den Frieden für Israel ermöglichen kann.“

Der Rede Macron lässt sich entnehmen, dass die Anerkennung dazu führen soll, dass der Völkermord aka Krieg beendet wird. Wenn aber die Rechte der Palästinenser:innen immer nur instrumentell gesehen werden, dann kann es auch keine dauerhafte Friedenssicherung geben. Maison entlarvt Macrons Anerkennung und sein Bekenntnis gegen Gewalt als Lippenbekenntnis. Die „Normalisierung“, die er sich für Israel wünscht, das weiterhin (zwingendes) Völkerrecht bricht, soll weiterhin, mit oder ohne palästinensischen Staat, gewaltvoll durchgesetzt werden. Das zeigt sich schon in der ersten Hälfte des Briefes, wo Macron sich lang und breit auf Frankreichs offizielle Annahme der IHRA-Definition von Antisemitismus beruft. Die Annahme der IHRA-Definition, „which condemns anti-Zionism as a form of antisemitism”, war 2017 eine seiner ersten Amtshandlungen und bildet die Grundlage für seine Anerkennungspolitik. Die von Macron in die IHRA-Definition hineininterpretierte umstandslose Gleichsetzung jeder auch noch so legitimen Gegnerschaft gegen einen exkludierenden und ethnisch definierten Staat mit der Feindschaft gegen Juden als Juden muss alle von Israel ausgebürgerten und enteigneten Palästinenser:innen, die selbstverständlich ein Problem mit dieser Staatlichkeit haben, quasi automatisch zu Judenfeinden erklären (– ganz abgesehen davon, dass diese Gleichsetzung selbst antisemitisch ist). Macrons Brief an Netanjahu zeigt: Die gewaltvolle Instrumentalisierung der Antisemitismusbekämpfung und die pauschale Diffamierung und Ausgrenzung von Palästinenser:innen als Antisemiten ist weit mehr als nur Begleiterscheinung oder Kollateralschaden der derzeitigen Anerkennungspolitik; sie ist dieser inhärent.

Rafaëlle Maison interessiert die Anerkennung aber vor allem aus völkerrechtlicher Perspektive. Sie analysiert die von Frankreich und Saudi Arabien initiierte und auch von Deutschland unterzeichnete „Erklärung von New York“ vom 29. Juli, sowie den am selben Tag von den Außenministern von 15 westlichen Staaten (Deutschland war nicht darunter) getragenen „New York Call“ als Reaktion und eine Art Ablenkungsmanöver, um von dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs „zu den rechtlichen Folgen von Israels Besatzungspolitik“ abzulenken. Der IGH hatte genau ein Jahr zuvor geurteilt, dass die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete illegal ist, Israel aus den Gebieten abziehen und Reparationen leisten muss. Die UN-Generalversammlung hatte daraufhin am 18. September 2024 mit großer Mehrheit (und Enthaltung Deutschlands) die Resolution ES-10/24 angenommen, die ein Stopp von Waffenlieferungen vorschreibt, wenn diese in den besetzten Gebieten eingesetzt werden, und zum Boykott von Waren aus israelischen Siedlungen auffordert. Statt dem IGH-Gutachten zu folgen (das alle, auch das Auswärtige Amt, zu respektieren vorgeben), beriefen Frankreich und Saudi Arabien für den Juli 2025 die UN-Konferenz zu der Anerkennungsfrage ein.

Rafaëlle Maison sieht die Ergebnisse „potentially in violation of international law as outlined by the ICJ in 2024”. Der palästinensische Staat, der unter gegebenen Verhältnissen sowieso etwas Fiktives hat, solle auch in der unwahrscheinlichen Zukunft, dass es ihn wirklich geben darf, nur unter Bedingungen existieren: unter den Bedingungen der Abgabe der Waffen der Hamas an die von Israel kontrollierte Palestinian Authority, was de facto eine Demilitarisierung bedeute (Para. 11 der Erklärung), des Respekts der sich zur Wahl stellenden Akteure für die „internationalen Verpflichtungen“ der PLO (Para. 22), des Ausschlusses der Hamas sowie der Verfolgung einer liberalen Reform-Agenda. Zur letzteren schreibt Maison: „These recipes sound a lot like a free-market programme, compromising the sovereign choices oft he State-to-be and requiring – incongruously in appearance, but in reality quite significantly – a control over freedom of expression.“ Dem völkerrechtlich garantierten Rückkehrrecht werde ein Lippenbekenntnis gezollt, tatsächlich werde eine „just solution“ für das Flüchtlingsproblem durch ein  „regional and international framework“ in Aussicht gestellt (Para. 39). Und der zukünftige Staat werde an Sicherheitsarrangements arbeiten müssen, die „beneficial to all parties“ seien (Para. 20) – was unter den gegebenen Machtverhältnissen nur bedeuten könne, dass Israel sich wieder polizeiliche und militärische Macht und Gewalt in dem schwachen Staatsgebilde anmaßen werde. Herauskommen könne dabei nur ein Staat ohne Souveränität, eine „entity under control“.

Insbesondere der „New York Call“ mache deutlich, worum es eigentlich gehe: darum, die Beziehungen aller Staaten mit Israel trotz der weiter laufenden Verbrechen zu normalisieren – und eben nicht, wie es der IGH eigentlich vorschreibt, diesen Verbrechen endlich mit Konsequenzen zu begegnen. So werde die unter Bedingungen gesetzte Anerkennung, während der Genozid weitergeht, „indeed the latest stage in the ‚war against Palestine‘, as chronicled by historian Rashid Khalidi.“

Tatsächlich wird die Lage nicht befriedet werden, welche „Lösung“ auch immer die internationale Staatengemeinschaft finden wird, um Israel die „roten Linien“ aufzuzeigen, damit es die Annexionspläne aufgibt und den Völkermord endlich beendet; erst recht nicht unter einem Übergangs-Gouverneur Tony Blair in Gaza. Trotzdem haben sich in Frankreich in den letzten Tagen auch Stimmen zu Wort gemeldet, die dafür plädieren, nicht bei der verzweifelten Analyse Rafaëlle Maisons stehenzubleiben, sondern das Beste aus der neuen Situation zu machen. Der laufende Genozid, das tägliche massenhafte Sterben, Töten und Morden, muss unbedingt sofort aufhören, und die Anerkennung erleichtert die Bereitschaft zu Interventionen. Ilyes Ramdani hält auf Médiapart der französischen Initiative zugute, dass immerhin ein enormer Druck auf die USA entstanden sei; die „Riviera“-Pläne scheinen endgültig begraben.

Am 24. September hat Ardi Imseis, Professor für Internationales Recht an der Queen’s University in Kanada, auf Initiative der Juristin und Mitglied der französischen Nationalversammlung Gabrielle Cathala, vor französischen Abgeordneten gesprochen und einen Tag später an der Sorbonne einen Vortrag gehalten. Er vertritt eine „realistische“, „pessoptimistische“ Haltung, die darauf beharrt, dass sowohl die rechtliche Tatsache der Anerkennung als auch Tatsache der weiter bestehenden rechtlichen Verpflichtungen, die das IGH-Gutachten feststellt, für Forderungen an die Regierungen benutzt werden können. Es sei nun mal bittere Realität, dass das Überleben und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volks fast allen Staaten der Welt egal ist. Die Palästinenser:innen hätten selbst keine Ressourcen, sich gegen die Besatzung zu verteidigen. Aber gerade was die Staatlichkeit anbelangt, sieht Imseis das Glas halbvoll, wo andere es halbleer sehen. Fast unabhängig von der Situation auf dem Boden habe das Völkerrecht über die Jahre und Jahrzehnte ebenfalls eine eigene Realität geschaffen. „It is clear that today, the State of Palestine already exists as a matter of both State practice and law, with or without recognition by France and other western States.” Palästina war bereits vor Frankreichs Initiative von 160 Staaten anerkannt, wurde 2011 als vollgültiges Mitglied in die UNESCO aufgenommen, und kann Vertragspartner multilateraler Verträge sein. Gerade weil das Knüpfen von Bedingungen an die Anerkennung mit dem Völkerrecht in Konflikt stehe, könne man die Bedingungen bekämpfen. Mit der Anerkennung würde es leichter, die Staaten unter Druck zu setzen, ihr Verhältnis zu Israel zu korrigieren und auf die Besatzung, die Apartheid, die Kriegsverbrechen mit Sanktionen zu reagieren. Imsais kommt somit bei seiner Analyse der Erklärung von New York zu einem ganz anderen Schluss als Maison: Die anerkennenden westlichen Regierungen wüssten durchaus, dass Staaten souverän seien und es nicht gehe, einer Staatlichkeit Bedingungen aufzuerlegen; dementsprechend weich und letzten Endes unverbindlich seien sie formuliert. „Souvereignty is a curious thing. But as France so intimately knows (…), States have the perfect right to do whatever is not prohibited by international law.”

Maison hatte ihren Text mit der Befürchtung geschlossen, dass die Regierungen die UN Generalversammlung unter dem Vorwand der Anerkennung eines palästinensischen „Pseudo-Staates“ durch Missachtung des IGH-Gutachtens für eine weitere Aushöhlung des Völkerrechts benutzten, ja dass hier das Völkerrecht insgesamt zu Grabe getragen werde. Imrais’ Realismus hingegen sieht „the contingency and disenfranchisement of the Palestinian Arabs“ im UN-Recht selbst verankert, zusammen mit dem „so-called two state framework“ des Teilungsplans von 1947. Mangels anderer Ressourcen könnten und müssten die Palästinenser:innen nun eben mit diesem Recht arbeiten.

Am Montag (29. September 2025) werden Ardi Imseis und Rafaëlle Maison im Amphitheater Jean Jaurès in Paris miteinander sprechen. In Deutschland sollte man genau zuhören. Zwar hat sich auch in Deutschland der Diskurs verschoben, die Bundesregierung ist von der Netanjahu-Regierung deutlich abgerückt, man darf jetzt sogar „Genozid“ sagen, ohne als Antisemit verleumdet zu werden. Aber die, sorry, totalitäre Staatsräson und die medialen Windmühlenkämpfe in ihrem Schatten verdecken immer noch die eigentlichen Konfliktlinien. Das fruchtlose Pro und Contra deutscher Provenienz dreht sich im Grunde nur darum, ob man Israel gewähren lassen oder Israel zu seinem Glück zwingen müsse; ob das Scheitern von Oslo Israel eine Carte Blanche gibt oder ob Israel wieder auf den Weg von Oslo hin zu einem „friedlichen Zusammenleben“ gebracht werden müsse. Und ob Deutschland sich international isoliert oder ob die Welt Deutschlands Sonderweg „versteht“. Was immer noch kaum diskutierbar ist: die Anerkennungsfrage im Lichte des Scheiterns von Oslo, aus der Perspektive dessen, was rechtens und gerecht ist. Oslo war im Rückblick wohl ein schwerer Fehler – eine Appeasement-Politik, die alle wichtigen Fragen ausklammerte, sich vor völkerrechtlichen Verpflichtungen drückte und langfristig die Gewichte immer mehr zulasten der Palästinenser:innen verschob. Das betrifft die Siedlungen, das betrifft die Apartheid, das betrifft das Recht der vertriebenen Palästinenser:innen auf Rückkehr und auf Kompensation für den entwendeten Besitz.

Deutschland hat sich nun gegen eine Anerkennung Palästinas entschieden und wird, wie immer, seinen Mangel an Verantwortungswillen mit Geldzahlungen zu kompensieren versuchen. Es zahlt aber auch noch einen anderen Preis: den der Ignoranz, im Arendtschen Sinne. Am Ende könnte sogar die These stehen, dass vielleicht tatsächlich das Völkerrecht selbst, durch den Teilungsplan, einen haltbaren Frieden unmöglich macht. Aber auch diese Diskussion wird sicherlich in Frankreich eher als in Deutschland stattfinden.