Autor: Redaktion

  • Wissenschaftsfreiheit – für wen, für was, mit welchem Ziel?

    Köppert, Katrin: Für eine radikale Imagination von Wissenschaft. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 17 (2025), Nr. 2, S. 140-144, http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/24183.

    Peters, Kathrin: Kritik der Wissenschaftsfreiheit. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 17 (2025), Nr. 2, S. 135-139, http://dx.doi.org/10.25969/mediarep/24182.

    Was bedeutet es, wenn gegenwärtig so viel über Wissenschaftsfreiheit gesprochen wird? Wer nutzt den Begriff und mit welchen Anliegen? Für wen gilt diese Freiheit? Wer wird nicht mitgedacht, was wird nicht gedacht? In der Zeitschrift für Medienwissenschaft haben Katrin Köppert und Kathrin Peters Debattenbeiträge veröffentlicht, die die Reaktionen von Universitäten auf den genozidalen Krieg in Gaza zum Ausgangspunkt nehmen, um die Rede von der Wissenschaftsfreiheit zu problematisieren.

    Katrin Köppert argumentiert, dass es ins Leere läuft, auf die Beschneidung akademischer Räume mit der Verteidigung von Wissenschaftsfreiheit zu reagieren. Der Ruf nach Freiheit müsste, vor dem Hintergrund des Black Radical Thought, erst einmal das Problem einer real existierenden Unfreiheit anerkennen. Rinaldo Walcott hat die Schwarze Emanzipation als eine beschrieben, die sich noch gar nicht ereignet hat. Mit Walcott gedacht hätte an die Stelle eines Plädoyers für Wissenschaftsfreiheit die Forderung nach einer radikalen Imagination von Wissenschaft zu treten.

    https://mediarep.org/server/api/core/bitstreams/ddba5814-7f36-486e-b0cb-7745e6a735ca/content

    Auch Kathrin Peters problematisiert, wenn der Fokus lediglich auf die Wissenschaftsfreiheit gerichtet wird. Sie sieht das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, seit es Wissenschaft gibt, als ein verschränktes. Der Ruf nach Neutralität von Wissenschaft ist deshalb selbst politisch. Denn er ignoriert, dass schon die Wahrnehmung eines Problems als Problem niemals neutral sein kann. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Debatte um Wissenschaftsfreiheit, die angesichts Palästina-solidarischer Proteste an Universitäten ausgebrochen ist, als Verschiebung. So berechtigt Zweifel, ob die Wissenschaftsfreiheit staatlicherseits immer geschützt wurde, im Einzelnen sein mögen, so sind diese Debatten doch zugleich daran beteiligt, den analytischen Blick von drängenden Fragen abzuwenden – Fragen danach, wo Rassismus und Antisemitismus anfangen und aufhören, oder nach der sogenannten deutschen Erinnerungskultur. Vor allem aber verstellen die Debatten den Blick auf die Lage in Gaza, auf die die Protestierenden doch vor allem aufmerksam machen wollen.

    https://mediarep.org/server/api/core/bitstreams/f29c8fb2-cd66-40d5-8301-efa6d8336fa5/content

  • Medienanalyse: Hierarchien des Todes

    Jannis Grimm, Justus Könneker, Mariam Salehi: Hierarchies in death: coverage of Palestinian and Israeli victims in the context of October 7 and the war on Gaza, in: Peacebuilding, 4. Oktober 2025, S. 1-16. Open access: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/21647259.2025.2569080#d1e668.

    Nicht wirklich überraschend, und trotzdem sehr wichtig, dass es mit einer offenen Fragestellung und methodisch sauber herausgearbeitet wurde: Jannis Grimm, Justus Könneker und Mariam Salehi weisen nach, dass die Berichterstattung in den deutschen Medien in Bezug auf palästinensische und israelische Todesopfer nach dem 07. Oktober 2023 sehr asymmetrisch war. Der in der interdisziplinären Fachzeitschrift Peacebuilding veröffentlichte Artikel beruht auf einer systematischen, vergleichenden Frame-Analyse von Berichterstattung in fünf großen deutschen Tageszeitungen in den ersten sechs Wochen nach dem Massaker der Hamas und dem Beginn des israelischen Vernichtungsfeldzugs gegen Gaza. Er ist methodologisch an ähnliche Studien zur Berichterstattung in der englischsprachigen Presse angelehnt; für die deutsche Medienlandschaft hat eine solche Analyse bislang gefehlt.

    Ausgehend von den Arbeiten von Judith Butler (insbesondere ihrem 2009 erschienenen Buch Frames of War: When is Life Grievable?) arbeiten sie heraus, dass und wie die deutsche Medienberichterstattung zur ungleichen Betrauerbarkeit von Leben beiträgt. Während die israelischen Toten mit Würde und Empathie dargestellt und öffentlich betrauert wurden, wurden und werden die palästinensischen Toten in der Berichterstattung dehumanisiert, und es werden ihre gewaltsam herbeigeführten Tode als unvermeidbar oder sogar gerechtfertigt gerahmt.

    https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/21647259.2025.2569080#d1e668

  • „Nie wieder“ muss universell gelten

    Alexander Schwarz: Scheitern in Gaza, südlink, 213, 6–7.

    „Wer ‚Nie wieder‘ sagt, muss ‚für alle‘ meinen […]“, schreibt Alexander Schwarz in seinem Beitrag. Allerdings beharre die Bundesregierung auf einer Staatsräson, die sich auf eine uneingeschränkte Solidarität mit Israel reduziere, so Schwarz. Er verweist auf den Verlust der Glaubwürdigkeit angesichts der zu beobachtenden Doppelstandards in der (fehlenden) Anwendung des Völkerrechts, etwa im Hinblick auf die Ukraine – und die Folgen für eine regelbasierte Weltordnung und den Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht: „Wer bewusst mit diesen Prinzipien bricht, stellt sich außerhalb der Wertegemeinschaft, der er angehört.“ Auch innenpolitisch zeigen sich mit Blick auf die staatlichen Repressionen propalästinensischer Proteste und die damit einhergehende Verletzung grundgesetzlich verbürgter Rechte die Schäden für das demokratische Grundgerüst.

    Für Schwarz muss Staatsräson rechtlich gebunden werden, vorbehaltlich, dass man sie überhaupt als legitime Doktrin ansehen will (vgl. z.B. Andreas Engelmann, Über die erstaunliche Rückkehr der Staatsräson im Gewand der Moral, Etos, 22. August 2024, für den „[d]as Konzept Staatsräson […] nur einen Sinn [hat], wenn es für Interessen steht, die eine Missachtung von Recht und Gesetz legitimieren. Andernfalls könnte sich der Staat nämlich einfach an Recht und Gesetz halten.“): „Es geht nicht um ‚Staatsräson oder Völkerrecht‘, sondern um eine völkerrechtskonforme Staatsräson.“ Dass Deutschland zu Völkerrechtsverbrechen schweigt und an Israel Waffen liefert, beschädige Grundprinzipien der Völkerrechtsordnung. 

    Mit seinem Beitrag in der Zeitschrift Südlink betont Schwarz die Dringlichkeit einer universellen Geltung des Rechts – „Jetzt ist der Moment, die Prinzipien von Nürnberg zu verteidigen.“ 

    In diesem Zusammenhang sei auch auf die wiederholte Verweigerung von Rechtsschutz gegen deutsche Rüstungslieferungen durch deutsche Gerichte, mit fatalen Folgen für die palästinensische Zivilbevölkerung, hingewiesen, wie auch auf das unter anderem von Schwarz in der Bundespressekonferenz vom 2. Oktober 2025 vorgestellte Expertenpapier „Jenseits der Staatsraison: Wie historische Verantwortung, strategische Interessen und Völkerrecht in Einklang gebracht werden können. Expertenpapier für eine nahostpolitische Wende“.

    https://www.ecchr.eu/publikation/scheitern-in-gaza

  • Politische Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft

    Hanna Pfeifer: Die Verantwortung der Wissenschaft, Der Wiarda-Blog, 4. Oktober 2025.

    Hanna Pfeifers Gastbeitrag zur Frage, wie politisch Wissenschaft ist und sein soll, ist eine Antwort auf den FAZ-Artikel „Rollentausch von Aktivisten und Antiakademikern“ des österreichischen Soziologen Alexander Bogner und des Schweizer Historikers Caspar Hirschi, die sich für eine strikte Rollentrennung zwischen Wissenschaft und politischem Aktivismus aussprechen. Anlass von deren Intervention war die Entscheidung der International Sociological Association, die institutionelle Mitgliedschaft der Israelischen Gesellschaft für Soziologie zu suspendieren, weil sich diese nicht von den Verbrechen des israelischen Militärs gegen Palästinenser:innen in Gaza distanziert habe. Der Forderung der beiden Autoren nach einer Rollentrennung zwischen Wissenschaft und Aktivismus entgegnet Hanna Pfeifer, „dass Wissenschaft für den Erhalt ihrer eigenen Schaffensbedingungen Sorge tragen“ und sich deshalb „für demokratische Institutionen, die Bewahrung von Grundrechten und -freiheiten und den Schutz gleicher Menschenwürde“ einsetzen müsse. Man könne die Wissenschaft jedenfalls nicht darauf verpflichten, „bei der Unterminierung ihrer eigenen Existenz tatenlos zuzusehen“.

    https://www.jmwiarda.de/index.php/blog/2025/10/04/die-verantwortung-der-wissenschaft

  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Implikationen für Waffenlieferungen an Israel

    González Hauck, Sué; Theilen, Jens T.: Vertrauen und Vertretbarkeit: Das Ramstein-Urteil und seine Folgen für Waffenlieferungen an Israel, VerfBlog, 21.7.2025, https://verfassungsblog.de/ramstein-voelkerrecht-verantwortung/, DOI: 10.59704/eca51e26067a2044.

    Sué González Hauck und Jens Theilen arbeiten in ihrer Analyse auf dem „Verfassungsblog“ zunächst heraus, was das Problem des Urteils ist. Das Bundesverfassungsgericht stellt zwar klar, dass bei Angriffen verbündeter Staaten eine grundrechtliche Schutzpflicht Deutschlands gegenüber Menschen in Drittstaaten bestehen kann. Voraussetzung dafür ist unter anderem die systematische Verletzung des Völkerrechts durch den Angreifer. Ob eine solche vorliegt, beurteilt das Bundesverfassungsgericht jedoch anhand eines allzu flexiblen Maßstabs der “Vertretbarkeit” und kommt für die US-amerikanischen Drohnenangriffe zum Schluss, dass keine Schutzpflicht Deutschlands besteht und die Unterstützung der US-amerikanischen Angriffe von deutschem Boden aus rechtens ist.

    Diese Flexibilität hat Konsequenzen: Die Handhabung der Vertretbarkeitsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht führt dazu, dass es die diskursiven Deutungsschemata („frames“), die in Deutschland und in mit Deutschland verbündeten Ländern hegemonial sind, nahezu unhinterfragt übernimmt. Schon Judith Butlers Analyse der „frames of war“ hat gezeigt, dass innerhalb dieser Deutungsschemata Menschenleben einen unterschiedlichen Wert haben und manche Menschenleben nicht zählen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts übernimmt die “frames of war” des gegenwärtigen hegemonialen Diskurses, indem es Menschen im Jemen implizit als legitimes Ziel von Gewalt konstruiert.

    Butlers Analyse und andere Werke zu anti-palästinensischem Rassismus zeigen, dass gerade palästinensisches Leben innerhalb solcher Deutungsschemata nicht zählt. Entscheidend für Gerichtsverfahren zur Lieferung von Waffen an Israel wird daher sein, wie sehr sich die Gerichte von diesen Deutungsschemata lösen können. González Hauck und Theilen sehen in dem Urteil trotz des ernüchternden Ausgangs im Fall der US-amerikanischen Drohnenangriffe im Jemen auch Anknüpfungspunkte für Gerichtsverfahren gegen die deutsche Unterstützung des Vorgehens Israels in Gaza.  Die Idee einer grundrechtlichen Schutzpflicht bei Angriffen anderer Staaten bietet immerhin eine Handhabe, um den deutschen Waffenlieferungen an Israel entgegenzutreten – denn die systematischen und von internationalen Gerichten und Organisationen gut dokumentierten Völkerrechtsverstöße Israels sprengen selbst die permissiven Grenzen der bundesverfassungsgerichtlichen „Vertretbarkeit“.

    Diese Fragen bleiben relevant – trotz der jüngsten Ankündigung des Bundeskanzlers, keine weitere Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter zu genehmigen, „die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“. Diese Entscheidung kommt viel zu spät, betrifft nicht schon genehmigte Exporte und auch prospektiv nur einen Teil der Waffenlieferungen an Israel. Die gegen Waffenlieferungen anhängigen Klagen laufen weiter.

    https://verfassungsblog.de/ramstein-voelkerrecht-verantwortung/

  • Dossier zur Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA)

    Peter Ullrich: Jerusalem Declaration on Antisemitism (Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2025, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367.

    Ohne die Vorgeschichte der Antisemitismusdefinition der International Holocaut Remembrance Alliance (IHRA) lässt sich die JDA mit ihrer Antisemitismusdefinition nicht verstehen. Deshalb widmet sich das Dossier eigentlich beiden: ihren Hintergründen und Zielen, den tatsächlichen Inhalten der Definitionen, ihren Strukturen und konkreten Bestimmungen und ihren Beispielen und Erläuterungen, „mit dem Ziel eine Erdung der allgemeinen, überwiegend äußerst emotional geführten Diskussion zumindest denkbarer zu machen“.

    Zu den Hintergründen: Beide Definitionen verdanken sich starken politischen Kontexten und Motiven im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und der Frage des „israelbezogenen Antisemitismus“. Insofern kann man auch bei der JDA nicht im engen Sinn von einer wissenschaftlichen Definition sprechen; eine Entgegensetzung IHRA = politische Definition, JDA = wissenschaftliche Definition würde zu kurz greifen. Trotzdem prägt natürlich die IHRA-Definition, dass die Fachwissenschaft an ihr nicht beteiligt wurde, während die JDA von (überwiegend jüdischen) Fachwissenschaftler:innen initiiert, formuliert und in großer Zahl unterzeichnet wurde. Die IHRA-Definition wird im Westen im politischen Raum mit staatlicher Macht durchgesetzt, die JDA ist dort nahezu bedeutungslos.  

    Das Dossier beschreibt als Hauptleistung der JDA, dass sie die Phänomene, die als antisemitisch bezeichnet werden können, ausdifferenziert und eingrenzt, ganz im Sinne einer wägbaren Definition. Sie ermöglicht es, die Erscheinungsformen von israelbezogenem Antisemitismus durch Differenzierung offen und kontextbezogen zu erfassen. Nur Phänomene, die sich gegen Juden:Jüdinnen und das Judentum als solches richten, in welchem Kontext auch immer, sind per se antisemitisch. Dazu kommen Phänomene, die nicht per se antisemitisch sind, aber antisemitisch sein können, je nach Kontext. Die JDA verlangt, dass bei nicht per se antisemitischen Äußerungen und Taten die antijüdische Zielrichtung aus der Kenntnis des Kontextes nachgewiesen muss und nicht einfach behauptet werden kann. „Dieses begriffliche Hilfsmittel zur Klärung von Grauzonen im Diskurs über israelbezogenen Antisemitismus kann nicht hoch genug gewürdigt werden“, so das Dossier. Die JDA erkennt an, dass Israelbezogene Phänomene in jedem Kontext per se antisemitisch sein können, zum Beispiel die Anwendung klassischer antisemitischer Stereotype auf Israel oder die Inhaftungnahme von Jüdinnen*Juden für Handlungen des Staates Israel. Aber das Bestreiten des Existenzrechts Israels ist nicht in jedem Kontext antisemitisch. Die an der JDA beteiligten Forscher:innen haben lange um eine gemeinsame Position gerungen, bevor sie sich auf folgende Formulierung einigen konnten: antisemitisch ist, „Juden:Jüdinnen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben“.

    Anders die IHRA-Definition. Sie sagt zwar ebenfalls, dass bei der Bewertung der „Gesamtkontext“ berücksichtigt werden müsse, ist dabei aber nicht auf eine Eingrenzung, sondern auf eine Ausweitung der Gruppe der als antisemitisch zu bewertenden Phänomene angelegt. Die Beispiele der IHRA-Definition umfassen auch Äußerungen, die nicht in jedem Kontext gegen Juden:Jüdinnen gerichtet sind, aber in jedem Kontext und immer als antisemitisch bewertet werden sollen, an erster Stelle die Infragestellung des Existenzrechts Israels. Auch Boykott-Bewegungen wie der BDS sind zufolge der IHRA-Definition immer als antisemitisch einzustufen, unabhängig von ihrer eigentlichen Zielrichtung, z.B. wenn sie auf Menschenrechtsverletzungen reagieren.

    Der häufig geäußerten Kritik an der JDA-Definition, dass sie allzu hohe Hürden setze, um „weltbildhaften Antizionismus als antisemitisch zu klassifizieren“, hält das Dossier entgegen, dass es sich hier um graduelle Abstufungsfragen handele, die man wiederum nur differenziert beantworten könne. Und es deutet an, dass von den fatalen Folgen der IHRA-Definition ja auch an der JDA beteiligte Forscher:innen betroffen sind, nämlich diejenigen, die sich „gegen die konkrete Form der zionistischen Bewegung und Staatlichkeit“ Israels aussprechen. Auch sie werden von der IHRA-Definition dem Vorwurf eines im Zweifelsfall antisemitischen „weltbildhaften Antizionismus“ ausgesetzt. Damit wird aber eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Kontext, der diese Forscher:innen zu ihrer Haltung gebracht hat, verhindert. Hier wird die grundlegende Asymmetrie zwischen diesen beiden Definitionen besonders deutlich, mit den daraus resultierenden Problemen für ihre akademische Diskussion und ihre (Rechts)Anwendung.

    ↗ www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367

  • Die Rache der serbischen Regierung an Studierenden und Professor:innen

    Adriana Zaharijević und Jana Krstić: How Did a Fight Against Corruption Become a Struggle Over Education? — Chronology of Pressure, Balkan Talks, 23. Mai 2025, https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

    In Westeuropa weitgehend unbeachtet, spitzt sich der Konflikt zwischen der Regierung und den Universitäten, Studierenden, Professor:innen in Serbien immer dramatischer zu. Seit Ende letzten Jahres führt die Zivilgesellschaft in Serbien Massenproteste vor allem wegen der allgegenwärtigen Korruption und dem Kollaps der rechtsstaatlichen Institutionen auf. Wie die EU mit ihrem „Lithium-Pakt“ und dem Waffenhandel in diese Vorgänge in Serbien verwickelt ist, hat Snežana Stanković auf dieser Seite bereits in ihrem Pick am 3. Februar dargestellt. Die Proteste gingen vor allem von Studierenden aus. Fast alle öffentlichen Fakultäten des Landes haben sich im Dezember 2024 hinter die Forderungen der Studierenden gestellt, im Gefühl, dass es um den Bestand der Wissenschaften und des Bildungssystems selbst geht. Lehrkräfte haben sich landesweit organisiert und vernetzt.

    Seit März schlägt die Regierung unbarmherzig zurück: Das Bildungsministerium, „Racheministerium“ genannt, verweigert Lehrern und Universitätsprofessoren einfach den größten Teil ihres Gehalts. Die friedlichen Proteste werden von Agents provocateurs gekapert, um den Ruf der Demonstrant:innen zu beschädigen; die Regierung schürt Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Universitätsprofessor:innen sollen jetzt 35 Wochenstunden unterrichten, was Forschung unmöglich macht. Die Uniangestellten wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, viele stehen vor der Entlassung, das Akkreditierungssystem droht zusammenzubrechen. Seit dem 8. Mai plant die Regierung ein neues Gesetz zur Hochschulbildung, das die Freiheit von Forschung und Lehre voraussichtlich drastisch einschränken wird.

    Die serbischen Kolleg:innen appellieren an die internationale Gemeinschaft, die Unterdrückungsmaßnahmen in Serbien nicht zu ignorieren, sondern mit den Studierenden und Professor:innen und ihren Forderungen nach Transparenz, Verantwortlichkeit und akademischer Unabhängigkeit solidarisch zu sein.

    https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

  • Vom Bystander zum Verbündeten

    Sarah Schulman: The Fantasy and Necessity of Solidarity, New York (Penguin Random House) 2025, 320 Seiten.

    „The Fantasy and Necessity of Solidarity“ [Fantasiebild und Notwendigkeit von Solidarität] ist das neueste Buch von Sarah Schulman, einer US-amerikanischen Schriftstellerin, Pädagogin und Aktivistin, die vor allem durch ihre monumentale Oral History von ACT UP, der AIDS Coalition to Unleash Power, bekannt geworden ist. In einer Mischung aus politischen Memoiren und Ratgeber denkt es neu und differenziert darüber nach, wie Solidarität heute praktiziert werden kann, und liefert im Vorbeigehen wunderbare Definitionen, zum Beispiel: „Solidarität ist der Prozess der Anerkennung, dass andere Menschen wirklich existieren und ihre Erfahrungen wichtig sind“, oder: „Solidarität ist die Handlung hinter der Erkenntnis, dass man nicht der einzige Mensch mit Träumen ist“.

    Während der Schwerpunkt des Buches auf der Solidarität mit Palästina liegt (für die sich Schulman seit 2009 engagiert), greift die Autorin auch auf ihre breitere aktivistische, künstlerische und pädagogische Arbeit zurück und gibt viele Beispiele für gelebte Solidarität, vor allem im US-Kontext, vom geheimen Aktivismus für reproduktive Rechte bis hin zu informellen Selbsthilfegruppen, die sich innerhalb der exklusiven Räume der New Yorker Theaterszene gebildet haben. Über ihre eigenen Erfahrungen hinaus findet Schulman wertvolle Lehren in der Arbeit von Vivian Gornick, Wilmette Brown und Jean Genet, um nur einige zu nennen.

    Schulman akzeptiert die inhärente „Messiness“, die ideologische Unordentlichkeit von Solidarität, die „trotz Widersprüchen wichtig ist, sich entwickelt und Wirkung zeigen kann“. Aber am eindrucksvollsten ist ihre aus ihrer jahrzehntelangen Organisationsarbeit und vielen herben Enttäuschungen gewonnene ehrliche Anerkennung der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, in der Solidaritätsarbeit quer durch die Machthierarchien Koalititionspolitik zu betreiben: „Koalitionen sind unbequem, weil wir unsere ganz spezifischen persönlichen politischen Ziele, die keiner von uns allein erreichen kann, zugunsten eines Kompromisses für die Gemeinschaft opfern. Aber ohne diese Flexibilität wäre keine Bewegung möglich. Der Wandel, der Frieden und die Gerechtigkeit, die wir anstreben, sind wichtiger als unser Bedürfnis, in unseren Wohnzimmern Recht zu haben.“

    Hoffentlich wird das Buch ins Deutsche übersetzt.

    https://www.penguinrandomhouse.com/books/771411/the-fantasy-and-necessity-of-solidarity-by-sarah-schulman

  • Falsche Signale: Staatsbesuch in Israel in Sichtweite des Genozids

    Dörthe Engelcke/Elad Lapidot/Alex Müller: Steinmeier in Israel: Zu Besuch bei einem Angeklagten, taz, 14. Mai 2025.

    Der Staatsbesuch mit militärischen Ehren für den israelischen Präsidenten Isaac Herzog in Berlin und der anschließende Besuch von Bundespräsident Steinmeier in Israel stehen sinnbildlich für die Doppelmoral deutscher Außenpolitik – und für die Feigheit deutscher Politiker, die israelischen Kriegsverbrechen klar zu benennen. Bundespräsident Steinmeier bezeichnete das Fundament der deutsch-israelischen Beziehungen als „tief und tragfähig“. Es trage „die Erinnerung an die Vergangenheit ebenso in sich wie die geteilten Werte zweier liberaler rechtsstaatlicher Demokratien“. Diese Aussagen offenbaren das Ausmaß deutscher Realitätsverweigerung. Während in Gaza eine eingesperrte, ausgehungerte und traumatisierte Zivilbevölkerung weiter systematisch ausgelöscht wird, feiert Deutschland 60 Jahre diplomatischer Beziehungen mit hohlen Symbolakten, Fototerminen und demonstrativer Freundschaft. Zum jetzigen Zeitpunkt kann dieser Besuch kaum anders als diplomatische Rückendeckung für den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung verstanden werden.

    Dabei hätte der 60. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen auch anders begangen werden können. Das groteske Spektakel war nicht alternativlos. Der Bundespräsident hätte sich mit kritischen Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft treffen können, die in Israel zunehmend unter Druck geraten. Das wäre ein Zeichen gewesen, dass Deutschland jene Stimmen stärkt, die für Demokratie, Menschenrechte und Frieden eintreten. Stattdessen bleibt eine verpasste Chance – und die bedrückende Einsicht, dass sich mit Politiker:innen, die nicht imstande sind, die Tötung von über 17.000 Kindern in Gaza klar zu verurteilen, der Faschismus auch in Deutschland jederzeit wiederholen kann.

    Vor Antritt des Staatsbesuchs hatte KriSol an den Bundesminister Steinmeier appelliert: „Nutzen Sie die Jahresfeier als Gelegenheit, ein Zeichen für ein Ende der Gewalt, für Gerechtigkeit und für Menschlichkeit zu setzen. Laden Sie israelische Friedensaktivist:innen, Menschenrechtler:innen, kritische Journalist:innen und Intellektuelle, Holocaustüberlebende, palästinensische Bürger:innen Israels sowie engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen wie Standing Together, Israelis für Frieden, Breaking the Silence und B’Tselem ein. Die Stärkung dieser Stimmen wäre in der aktuellen Situation ein wichtiges Signal – sowohl an die Menschen in der Region als auch an die internationale Gemeinschaft –, dass sich Deutschland nicht selektiv, sondern konsequent zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht bekennt.“

    https://taz.de/Steinmeier-in-Israel/!6087915

  • Stellungnahme aus der Friedens- und Konfliktforschung gegen Staatsräson und Selbstzensur

    Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung: Wissenschaftsfreiheit als Prämisse von Friedens- und Konfliktforschung, März 2025.

    Wie in anderen disziplinären Feldern, so gilt auch für die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung: Die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in fernen Ländern zu beklagen fällt leicht. Widerspruch ist solange erwünscht, wie die Angriffe auf Forschung, Lehre und Zivilgesellschaft im eigenen Land von weit rechts auf die sogenannte politische Mitte abzielen. Wenn die Wissenschaft selbst jedoch daran beteiligt ist, die Räume des (Un)Sagbaren zu definieren und zu kontrollieren, wird es kompliziert – und kontrovers.

    Anfang des Jahres haben sich Mitglieder des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung innerhalb der seit 1968 bestehenden Wissenschaftsvereinigung der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung deshalb zusammengefunden, um eine Stellungnahme zu verfassen. Der Anlass waren die beiden „Antisemitismus-Resolutionen“ des Deutschen Bundestags im November 2024 und Januar 2025, die förderungswürdige Wissenschaft und auch zivilgesellschaftliche Organisationen auf die – im Fachdiskurs umstrittene – IHRA-Definition von Antisemitismus verpflichten wollen.

    Ausgerechnet jenes disziplinäre Feld, das von sich behauptet, die Möglichkeitsbedingungen von Krieg und Frieden zu beforschen, ist bislang bemerkenswert stumm, wenn Kolleg*innen ausgeladen, Räume entzogen, Forschungsprojekte und Publikationen behindert werden. Insbesondere, wenn es um die Einhegung und Unhörbarmachung kritischer Positionen zum Genozid in Palästina/Israel und die diesbezügliche Komplizenschaft westlicher Akteur*innen wie der Bundesrepublik Deutschland geht, werden Staatsräson und Selbstzensur auch unter Wissenschaftler*innen bisweilen zu wirkmächtigen Werkzeugen des Krieges selbst.

    Dafür wollte die Stellungnahme des Arbeitskreises sensibilisieren, dagegen will sie auch mobilisieren. Auf der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK e.V.), ist das bislang nur bedingt gelungen. Der erwartbaren Kontroverse zum Trotz wurde der Text am 20. März aber letztlich mit breiter Zustimmung diskutiert, und es konnte somit ein wichtiger Impuls für die weitere Beschäftigung der gesamten AFK mit dem Thema gesetzt werden. 

    https://afk-web.de/cms/wp-content/uploads/2025/04/stellungnahme-wissenschaftsfreiheit-ak-herrschaftskritische-friedensforschung-veroeffentlichung.pdf