Autor: Redaktion

  • Dossier zur Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA)

    Peter Ullrich: Jerusalem Declaration on Antisemitism (Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2025, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367.

    Ohne die Vorgeschichte der Antisemitismusdefinition der International Holocaut Remembrance Alliance (IHRA) lässt sich die JDA mit ihrer Antisemitismusdefinition nicht verstehen. Deshalb widmet sich das Dossier eigentlich beiden: ihren Hintergründen und Zielen, den tatsächlichen Inhalten der Definitionen, ihren Strukturen und konkreten Bestimmungen und ihren Beispielen und Erläuterungen, „mit dem Ziel eine Erdung der allgemeinen, überwiegend äußerst emotional geführten Diskussion zumindest denkbarer zu machen“.

    Zu den Hintergründen: Beide Definitionen verdanken sich starken politischen Kontexten und Motiven im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und der Frage des „israelbezogenen Antisemitismus“. Insofern kann man auch bei der JDA nicht im engen Sinn von einer wissenschaftlichen Definition sprechen; eine Entgegensetzung IHRA = politische Definition, JDA = wissenschaftliche Definition würde zu kurz greifen. Trotzdem prägt natürlich die IHRA-Definition, dass die Fachwissenschaft an ihr nicht beteiligt wurde, während die JDA von (überwiegend jüdischen) Fachwissenschaftler:innen initiiert, formuliert und in großer Zahl unterzeichnet wurde. Die IHRA-Definition wird im Westen im politischen Raum mit staatlicher Macht durchgesetzt, die JDA ist dort nahezu bedeutungslos.  

    Das Dossier beschreibt als Hauptleistung der JDA, dass sie die Phänomene, die als antisemitisch bezeichnet werden können, ausdifferenziert und eingrenzt, ganz im Sinne einer wägbaren Definition. Sie ermöglicht es, die Erscheinungsformen von israelbezogenem Antisemitismus durch Differenzierung offen und kontextbezogen zu erfassen. Nur Phänomene, die sich gegen Juden:Jüdinnen und das Judentum als solches richten, in welchem Kontext auch immer, sind per se antisemitisch. Dazu kommen Phänomene, die nicht per se antisemitisch sind, aber antisemitisch sein können, je nach Kontext. Die JDA verlangt, dass bei nicht per se antisemitischen Äußerungen und Taten die antijüdische Zielrichtung aus der Kenntnis des Kontextes nachgewiesen muss und nicht einfach behauptet werden kann. „Dieses begriffliche Hilfsmittel zur Klärung von Grauzonen im Diskurs über israelbezogenen Antisemitismus kann nicht hoch genug gewürdigt werden“, so das Dossier. Die JDA erkennt an, dass Israelbezogene Phänomene in jedem Kontext per se antisemitisch sein können, zum Beispiel die Anwendung klassischer antisemitischer Stereotype auf Israel oder die Inhaftungnahme von Jüdinnen*Juden für Handlungen des Staates Israel. Aber das Bestreiten des Existenzrechts Israels ist nicht in jedem Kontext antisemitisch. Die an der JDA beteiligten Forscher:innen haben lange um eine gemeinsame Position gerungen, bevor sie sich auf folgende Formulierung einigen konnten: antisemitisch ist, „Juden:Jüdinnen im Staat Israel das Recht abzusprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben“.

    Anders die IHRA-Definition. Sie sagt zwar ebenfalls, dass bei der Bewertung der „Gesamtkontext“ berücksichtigt werden müsse, ist dabei aber nicht auf eine Eingrenzung, sondern auf eine Ausweitung der Gruppe der als antisemitisch zu bewertenden Phänomene angelegt. Die Beispiele der IHRA-Definition umfassen auch Äußerungen, die nicht in jedem Kontext gegen Juden:Jüdinnen gerichtet sind, aber in jedem Kontext und immer als antisemitisch bewertet werden sollen, an erster Stelle die Infragestellung des Existenzrechts Israels. Auch Boykott-Bewegungen wie der BDS sind zufolge der IHRA-Definition immer als antisemitisch einzustufen, unabhängig von ihrer eigentlichen Zielrichtung, z.B. wenn sie auf Menschenrechtsverletzungen reagieren.

    Der häufig geäußerten Kritik an der JDA-Definition, dass sie allzu hohe Hürden setze, um „weltbildhaften Antizionismus als antisemitisch zu klassifizieren“, hält das Dossier entgegen, dass es sich hier um graduelle Abstufungsfragen handele, die man wiederum nur differenziert beantworten könne. Und es deutet an, dass von den fatalen Folgen der IHRA-Definition ja auch an der JDA beteiligte Forscher:innen betroffen sind, nämlich diejenigen, die sich „gegen die konkrete Form der zionistischen Bewegung und Staatlichkeit“ Israels aussprechen. Auch sie werden von der IHRA-Definition dem Vorwurf eines im Zweifelsfall antisemitischen „weltbildhaften Antizionismus“ ausgesetzt. Damit wird aber eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Kontext, der diese Forscher:innen zu ihrer Haltung gebracht hat, verhindert. Hier wird die grundlegende Asymmetrie zwischen diesen beiden Definitionen besonders deutlich, mit den daraus resultierenden Problemen für ihre akademische Diskussion und ihre (Rechts)Anwendung.

    ↗ www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-154367

  • Die Rache der serbischen Regierung an Studierenden und Professor:innen

    Adriana Zaharijević und Jana Krstić: How Did a Fight Against Corruption Become a Struggle Over Education? — Chronology of Pressure, Balkan Talks, 23. Mai 2025, https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

    In Westeuropa weitgehend unbeachtet, spitzt sich der Konflikt zwischen der Regierung und den Universitäten, Studierenden, Professor:innen in Serbien immer dramatischer zu. Seit Ende letzten Jahres führt die Zivilgesellschaft in Serbien Massenproteste vor allem wegen der allgegenwärtigen Korruption und dem Kollaps der rechtsstaatlichen Institutionen auf. Wie die EU mit ihrem „Lithium-Pakt“ und dem Waffenhandel in diese Vorgänge in Serbien verwickelt ist, hat Snežana Stanković auf dieser Seite bereits in ihrem Pick am 3. Februar dargestellt. Die Proteste gingen vor allem von Studierenden aus. Fast alle öffentlichen Fakultäten des Landes haben sich im Dezember 2024 hinter die Forderungen der Studierenden gestellt, im Gefühl, dass es um den Bestand der Wissenschaften und des Bildungssystems selbst geht. Lehrkräfte haben sich landesweit organisiert und vernetzt.

    Seit März schlägt die Regierung unbarmherzig zurück: Das Bildungsministerium, „Racheministerium“ genannt, verweigert Lehrern und Universitätsprofessoren einfach den größten Teil ihres Gehalts. Die friedlichen Proteste werden von Agents provocateurs gekapert, um den Ruf der Demonstrant:innen zu beschädigen; die Regierung schürt Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Universitätsprofessor:innen sollen jetzt 35 Wochenstunden unterrichten, was Forschung unmöglich macht. Die Uniangestellten wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, viele stehen vor der Entlassung, das Akkreditierungssystem droht zusammenzubrechen. Seit dem 8. Mai plant die Regierung ein neues Gesetz zur Hochschulbildung, das die Freiheit von Forschung und Lehre voraussichtlich drastisch einschränken wird.

    Die serbischen Kolleg:innen appellieren an die internationale Gemeinschaft, die Unterdrückungsmaßnahmen in Serbien nicht zu ignorieren, sondern mit den Studierenden und Professor:innen und ihren Forderungen nach Transparenz, Verantwortlichkeit und akademischer Unabhängigkeit solidarisch zu sein.

    https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

  • Vom Bystander zum Verbündeten

    Sarah Schulman: The Fantasy and Necessity of Solidarity, New York (Penguin Random House) 2025, 320 Seiten.

    „The Fantasy and Necessity of Solidarity“ [Fantasiebild und Notwendigkeit von Solidarität] ist das neueste Buch von Sarah Schulman, einer US-amerikanischen Schriftstellerin, Pädagogin und Aktivistin, die vor allem durch ihre monumentale Oral History von ACT UP, der AIDS Coalition to Unleash Power, bekannt geworden ist. In einer Mischung aus politischen Memoiren und Ratgeber denkt es neu und differenziert darüber nach, wie Solidarität heute praktiziert werden kann, und liefert im Vorbeigehen wunderbare Definitionen, zum Beispiel: „Solidarität ist der Prozess der Anerkennung, dass andere Menschen wirklich existieren und ihre Erfahrungen wichtig sind“, oder: „Solidarität ist die Handlung hinter der Erkenntnis, dass man nicht der einzige Mensch mit Träumen ist“.

    Während der Schwerpunkt des Buches auf der Solidarität mit Palästina liegt (für die sich Schulman seit 2009 engagiert), greift die Autorin auch auf ihre breitere aktivistische, künstlerische und pädagogische Arbeit zurück und gibt viele Beispiele für gelebte Solidarität, vor allem im US-Kontext, vom geheimen Aktivismus für reproduktive Rechte bis hin zu informellen Selbsthilfegruppen, die sich innerhalb der exklusiven Räume der New Yorker Theaterszene gebildet haben. Über ihre eigenen Erfahrungen hinaus findet Schulman wertvolle Lehren in der Arbeit von Vivian Gornick, Wilmette Brown und Jean Genet, um nur einige zu nennen.

    Schulman akzeptiert die inhärente „Messiness“, die ideologische Unordentlichkeit von Solidarität, die „trotz Widersprüchen wichtig ist, sich entwickelt und Wirkung zeigen kann“. Aber am eindrucksvollsten ist ihre aus ihrer jahrzehntelangen Organisationsarbeit und vielen herben Enttäuschungen gewonnene ehrliche Anerkennung der Schwierigkeit und der Notwendigkeit, in der Solidaritätsarbeit quer durch die Machthierarchien Koalititionspolitik zu betreiben: „Koalitionen sind unbequem, weil wir unsere ganz spezifischen persönlichen politischen Ziele, die keiner von uns allein erreichen kann, zugunsten eines Kompromisses für die Gemeinschaft opfern. Aber ohne diese Flexibilität wäre keine Bewegung möglich. Der Wandel, der Frieden und die Gerechtigkeit, die wir anstreben, sind wichtiger als unser Bedürfnis, in unseren Wohnzimmern Recht zu haben.“

    Hoffentlich wird das Buch ins Deutsche übersetzt.

    https://www.penguinrandomhouse.com/books/771411/the-fantasy-and-necessity-of-solidarity-by-sarah-schulman

  • Falsche Signale: Staatsbesuch in Israel in Sichtweite des Genozids

    Dörthe Engelcke/Elad Lapidot/Alex Müller: Steinmeier in Israel: Zu Besuch bei einem Angeklagten, taz, 14. Mai 2025.

    Der Staatsbesuch mit militärischen Ehren für den israelischen Präsidenten Isaac Herzog in Berlin und der anschließende Besuch von Bundespräsident Steinmeier in Israel stehen sinnbildlich für die Doppelmoral deutscher Außenpolitik – und für die Feigheit deutscher Politiker, die israelischen Kriegsverbrechen klar zu benennen. Bundespräsident Steinmeier bezeichnete das Fundament der deutsch-israelischen Beziehungen als „tief und tragfähig“. Es trage „die Erinnerung an die Vergangenheit ebenso in sich wie die geteilten Werte zweier liberaler rechtsstaatlicher Demokratien“. Diese Aussagen offenbaren das Ausmaß deutscher Realitätsverweigerung. Während in Gaza eine eingesperrte, ausgehungerte und traumatisierte Zivilbevölkerung weiter systematisch ausgelöscht wird, feiert Deutschland 60 Jahre diplomatischer Beziehungen mit hohlen Symbolakten, Fototerminen und demonstrativer Freundschaft. Zum jetzigen Zeitpunkt kann dieser Besuch kaum anders als diplomatische Rückendeckung für den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung verstanden werden.

    Dabei hätte der 60. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen auch anders begangen werden können. Das groteske Spektakel war nicht alternativlos. Der Bundespräsident hätte sich mit kritischen Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft treffen können, die in Israel zunehmend unter Druck geraten. Das wäre ein Zeichen gewesen, dass Deutschland jene Stimmen stärkt, die für Demokratie, Menschenrechte und Frieden eintreten. Stattdessen bleibt eine verpasste Chance – und die bedrückende Einsicht, dass sich mit Politiker:innen, die nicht imstande sind, die Tötung von über 17.000 Kindern in Gaza klar zu verurteilen, der Faschismus auch in Deutschland jederzeit wiederholen kann.

    Vor Antritt des Staatsbesuchs hatte KriSol an den Bundesminister Steinmeier appelliert: „Nutzen Sie die Jahresfeier als Gelegenheit, ein Zeichen für ein Ende der Gewalt, für Gerechtigkeit und für Menschlichkeit zu setzen. Laden Sie israelische Friedensaktivist:innen, Menschenrechtler:innen, kritische Journalist:innen und Intellektuelle, Holocaustüberlebende, palästinensische Bürger:innen Israels sowie engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen wie Standing Together, Israelis für Frieden, Breaking the Silence und B’Tselem ein. Die Stärkung dieser Stimmen wäre in der aktuellen Situation ein wichtiges Signal – sowohl an die Menschen in der Region als auch an die internationale Gemeinschaft –, dass sich Deutschland nicht selektiv, sondern konsequent zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht bekennt.“

    https://taz.de/Steinmeier-in-Israel/!6087915

  • Stellungnahme aus der Friedens- und Konfliktforschung gegen Staatsräson und Selbstzensur

    Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung: Wissenschaftsfreiheit als Prämisse von Friedens- und Konfliktforschung, März 2025.

    Wie in anderen disziplinären Feldern, so gilt auch für die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung: Die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in fernen Ländern zu beklagen fällt leicht. Widerspruch ist solange erwünscht, wie die Angriffe auf Forschung, Lehre und Zivilgesellschaft im eigenen Land von weit rechts auf die sogenannte politische Mitte abzielen. Wenn die Wissenschaft selbst jedoch daran beteiligt ist, die Räume des (Un)Sagbaren zu definieren und zu kontrollieren, wird es kompliziert – und kontrovers.

    Anfang des Jahres haben sich Mitglieder des Arbeitskreises Herrschaftskritische Friedensforschung innerhalb der seit 1968 bestehenden Wissenschaftsvereinigung der deutschsprachigen Friedens- und Konfliktforschung deshalb zusammengefunden, um eine Stellungnahme zu verfassen. Der Anlass waren die beiden „Antisemitismus-Resolutionen“ des Deutschen Bundestags im November 2024 und Januar 2025, die förderungswürdige Wissenschaft und auch zivilgesellschaftliche Organisationen auf die – im Fachdiskurs umstrittene – IHRA-Definition von Antisemitismus verpflichten wollen.

    Ausgerechnet jenes disziplinäre Feld, das von sich behauptet, die Möglichkeitsbedingungen von Krieg und Frieden zu beforschen, ist bislang bemerkenswert stumm, wenn Kolleg*innen ausgeladen, Räume entzogen, Forschungsprojekte und Publikationen behindert werden. Insbesondere, wenn es um die Einhegung und Unhörbarmachung kritischer Positionen zum Genozid in Palästina/Israel und die diesbezügliche Komplizenschaft westlicher Akteur*innen wie der Bundesrepublik Deutschland geht, werden Staatsräson und Selbstzensur auch unter Wissenschaftler*innen bisweilen zu wirkmächtigen Werkzeugen des Krieges selbst.

    Dafür wollte die Stellungnahme des Arbeitskreises sensibilisieren, dagegen will sie auch mobilisieren. Auf der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK e.V.), ist das bislang nur bedingt gelungen. Der erwartbaren Kontroverse zum Trotz wurde der Text am 20. März aber letztlich mit breiter Zustimmung diskutiert, und es konnte somit ein wichtiger Impuls für die weitere Beschäftigung der gesamten AFK mit dem Thema gesetzt werden. 

    https://afk-web.de/cms/wp-content/uploads/2025/04/stellungnahme-wissenschaftsfreiheit-ak-herrschaftskritische-friedensforschung-veroeffentlichung.pdf

  • Lebensbejahende Lehren aus Rosa Luxemburgs Herbarium

    Agata Lisiak: Notes on plant companionship: from Rosa Luxemburg’s herbarium to Jumana Manna’s Foragers, Journal of Visual Culture (2024) 23 (2), 131-155.

    In „Notes on plant companionship: From Rosa Luxemburg’s herbarium to Jumana Manna’s Foragers“ [Notizen zu Pflanzen als Begleiterinnen: Von Rosa Luxemburgs Herbarium zu Jumana Mannas Sammlerinnen] ​​​​​​​ argumentiert Lisiak, dass Luxemburgs Analysen ineinandergreifender Unterdrückungssysteme nicht nur einen Rahmen für das Verständnis, sondern auch für den Widerstand gegen die heutigen Völkermorde, Kriege, Besetzungen, den Extraktivismus und die Umweltzerstörung bieten. Luxemburgs politische Ökologie sowie die Arbeit der zeitgenössischen Künstlerinnen Milena Bonilla, Marwa Arsanios und Jumana Manna erweitern diesen Rahmen um lebensbejahende Lehren aus der Pflanzenkameradschaft. Diese Frauen zeigen, wie die Gemeinschaft mit Pflanzen in der Beziehung zur Gegenwart befreiend wirkt und dabei hilft, sich unbeirrbar für ein Offenhalten der Zukunft einzusetzen. Nur wenn die Zukunft offen ist, können wir Alternativen zur Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart entwickeln.

    https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/14704129241270246

  • Erklärung des CCC-Redaktionskollektivs zum anhaltenden Völkermord in Gaza

    The CCC Editorial Collective: A statement on the ongoing genocide in Gaza, Communication, Culture & Critique (2025) 18 (1), 3–8.

    Das Redaktionskollektiv der Zeitschrift Communication, Culture and Critique (CCC) gab im Januar 2025 eine Erklärung ab, in der es „einen Waffenstillstand und die Abkehr von der israelischen Apartheid“ forderte. Aufgrund der zunehmenden Repressionen an US-amerikanischen Universitäten wurde die Erklärung von der Website der US-amerikanischen Universität entfernt, auf der sie ohne Paywall zugänglich sein sollte. Eine Website mit Open-Access-Versionen in verschiedenen Sprachen wird derzeit von kanadischen Mitgliedern des Kollektivs vorbereitet.

    Communication, Culture and Critique ist seit seiner Gründung im Jahr 2008 die führende Plattform für kritische Ansätze in den Kommunikations- und Medienwissenschaften. Im Januar 2025 übernahm ein neu gegründetes internationales und interdisziplinäres Redaktionskollektiv die Verantwortung. Für seine erste Ausgabe schrieb es eine programmatische redaktionelle Stellungnahme, die scharfen Protest gegen den Genozid in Gaza mit einer Analyse über Medienzensur und die Bereitstellung von Technologien für gezielte Tötungen verband. Das Redaktionskollektiv sieht als „das eklatante Epizentrum der Bemühungen der vorherrschenden globalen Ordnung, sich selbst zu reproduzieren: die anhaltende Völkermordkampagne des Staates Israel gegen die Palästinenser im Gazastreifen und seine allmähliche Ausweitung auf das Westjordanland“, wünscht sich aber „kritische antikoloniale Analysen ethno-nationalistischer und extraktiver Gewalt und Opposition“ von allen Schauplätzen dieser Welt, „einschließlich der gezielten Verfolgung der uigurischen Minderheit durch den chinesischen Staat, der Besetzung Kaschmirs durch den indischen Staat und der anhaltenden Entmenschlichung von Muslimen und unterdrückten religiösen und Kasten-Gemeinschaften, der Unterdrückung der Kurden durch den türkischen Staat, der ethnischen Säuberung der Tigrayans in Äthiopien und so weiter.“

    Die Erklärung als einleitender ↗ Artikel der Zeitschrift ist jetzt hinter einer Bezahlschranke. Während auf die kanadische Website gewartet wird, stellen wir hier ein PDF zur Verfügung.

  • Die BT-Resolution will Forschung und Lehre zensieren

    Dörthe Engelcke: Antisemitismus-Resolution: Gefährdete Diskursräume, taz, 30. Januar 2025.

    Und das geschieht gerade in einer Zeit, in der die berechtigte und dringend notwendige Thematisierung und Kritik an diesen Verbrechen international und inzwischen auch in Deutschland immer lauter werden. Der Artikel lenkt den Blick auf den politischen Kontext der Resolution: das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wegen des Verdachts auf Völkermord, die  Berichte der Vereinten Nationen über die apokalyptische Situation in Gaza, die übereinstimmenden Einschätzungen der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems und aller Infrastruktur. Die Resolution ignoriert diesen Kontext ebenso wie sie sich erst aus diesem Kontext erklären lässt. 

    https://taz.de/Antisemitismus-Resolution/!6062292/

  • Indien als Lehrstück

    Britta Ohm: Indien als Lehrstück. Vom Ende der Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie, in: BdWi Studienheft 14: Umkämpfte Wissenschaftsfreiheit. Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Oktober 2024, 56 S.

    Indien wird von westlichen Regierungen zunehmend als ein zukunftsweisendes, vor allem wirtschaftlich und technologisch wichtiges Partnerland dargestellt, auch unter Verweis auf seinen Status als „größte Demokratie der Welt“. In ihrer Wertschätzung Indiens unterscheiden sich proto-autokratische und etabliert-liberale Regierungen in Europa kaum. Britta Ohm schildert in diesem leider nicht online zugänglichen Text dagegen, wie die hindu-nationalistische Führung unter Narendra Modi seit ihrem Amtsantritt 2014 Universitäten und Hochschul-Campi immer stärker politisch drangsaliert und schließlich offen attackiert hat – besonders dort, wo sich Studierende und Lehrende mit Protesten der muslimischen Minderheit und niederkastigem Engagement solidarisiert haben. Die schrittweise Aushöhlung und Delegitimierung der Universitäten als Orten kritischen Verstehens und intellektueller Auseinandersetzung in Indien kann als eine Vorwegnahme heutiger Tendenzen in den USA und in Europa verstanden werden. Die ersten Verhaftungen von Studierenden an der Jawaharlal Nehru University (NJU) in Neu-Delhi 2016 geschah unter dem nie revidierten kolonialen „Gesetz gegen Aufwiegelung“ von 1870. Später stellte sich heraus, dass die ihnen zugerechneten Slogans von eingeschleusten Provokateuren skandiert worden waren. 

    „In vielerlei Hinsicht war damit die Universität als offenes ideologisches und auch physisches Schlachtfeld eröffnet, auf dem der Einsatz der Mittel durch die Hindu-nationalistische Regierung, rechts-extreme Netzwerke, private Medienkonzerne und social media Plattformen und zunehmend staatliche Organe (Polizei, Justiz) bestimmt und gegen die kritische Studierendenschaft sowie entsprechende Wissenschaftler:innen und Hochschullehrer:innen in Anschlag gebracht wurde.“

    Nach der Einführung der minderheitenfeindlichen Staatsbürgerschaftsgesetze eskalierte die Gewalt an der Jamia Millia Islamia (Nationale Islamische Universität) im Dezember 2019 in Delhi. Die Proteste griffen auf andere Landesteile und auf die nicht-universitäre Bevölkerung über. Die Bewegung wurde zu „groß, als dass die Polizei sie hätte zerschlagen können. Die Regierung griff stattdessen zu einem seit der Kolonialzeit probaten und im Zuge der jahrzehntelangen Hindu-nationalistischen Mobilisierung intensivierten Mittel, nämlich der Anzettelung eines ‚riot‘, einer pogromartigen Ausschreitung, in einem entfernten Stadtteil Delhis, für das die Angegriffenen verantwortlich gemacht wurden.“ 

    Bis heute sitzen überwiegend muslimische Studierende und Doktoranden ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis.

    „Wer sich (Hindutva)kritisch mit Fragen zu Kasten-, Minderheiten- und Genderpolitik oder mit Problematiken von Zugehörigkeit, Bürger- und Menschenrechten befassen will, tut das auf eigene Gefahr. (…) Indien zeigt, wie weit ideologisch motivierte Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit und die Unterminierung von Universitäten als Orte verbriefter intellektueller Auseinandersetzung gehen können, ohne die Demokratie als offiziellen und entsprechend global vermarktbaren Rahmen abzuschaffen. Gleichzeitig haben aber gerade diese Angriffe zweifellos dazu beigetragen, dass die Modi-Regierung bei den Wahlen 2024 ihre absolute Mehrheit verloren hat.“

    Der Artikel endet damit, dass wir von Indien lernen können, uns „nicht einfach auf die ängstliche Verteidigung der liberal-säkularen Demokratie“ zurückzuziehen, sondern unter Einberechnung der uns zu erwartenden Rückschläge Demokratie neu zu denken und „Wissenschaft und das Wissen der Bevölkerung in neue Beziehungen“ zu setzen. 

    https://www.bdwi.de/show/11222980.html

  • Das deutsche Schweigen über die Proteste in Serbien

    Julian Borger: “We’ve Proved that Change is Possible” – but Serbia Protesters Unsure of Next Move, The Guardian, 3. Februar 2025.

    Es war der letzte Arbeitstag der Woche, der 1.11.2024. Der Bahnhof in Novi Sad, einer pulsierenden, multikulturellen Stadt, war belebter als sonst. Um 11:52 Uhr stürzte das Bahnhofsvordach ein und tötete 15 Menschen. Schock, Trauer und Wut breiteten sich im ganzen Land aus. Aus Mahnwachen und Verkehrsblockaden entwickelte sich eine Protestbewegung, angeführt von Studierenden, die seitdem von der Regierung Rechenschaft, Transparenz und Verantwortung fordern. Die Tragödie in Novi Sad passierte vor dem Hintergrund einer lange bestehenden, systemischen Korruption, zunehmender Armut und vielfältiger Menschenrechtsverletzungen. Dabei hat sich Serbien in den letzten Jahren zu einem attraktiven Land für ausländische Investoren entwickelt und hat sich dem Westen auf durchaus widersprüchliche Weise angenähert. Belgrad hat für 800 Millionen Dollar Munition an die Ukraine geliefert, ohne sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Es gibt einen lebhaften Waffenhandel zwischen Serbien und Israel (hier, hier und hier). Im vergangenen Sommer war Bundeskanzler Olaf Scholz dabei, als die EU trotz der Bürgerproteste in Serbien und trotz des Widerstands von Umweltaktivisten einen „Lithium-Pakt“ schmiedete: ein Rahmenabkommen über den Lithiumabbau für die Produktion von Elektrofahrzeugen. Die EU will durch Kooperation mit den korrupten und autoritären Machthabern in Belgrad ihre Lithium-Abhängigkeit von China verringern. Serbiens Präsident gehörte der Regierung von Milošević an und trägt für die Kriegsverbrechen (u. a. Völkermord) in den Jugoslawienkriegen Mitverantwortung.

    Warum erfahren wir in Deutschland so wenig über die Studierendenproteste in Serbien? (Ausnahmen hier, hier, hier, hier oder hier). Warum gibt es keine Stellungnahmen von EU-Politiker:innen? 

    Im Guardian ist am 3.2.2025 ein Artikel erschienen, der die Komplexität dieser seit drei Monaten täglich stattfindenden Proteste anschaulich einfängt und das Schweigen der EU addressiert. Es fällt manchen von uns, die wir in Deutschland in der Diaspora leben, schwer, dieses Schweigen nicht mit dem Schweigen zusammenzudenken, das die genozidalen Schrecken in Gaza und im Westjordanland ignoriert.

    With student-led activists reluctant to engage politically against well-entrenched regime, many are asking: now what?