Autor: Marion Detjen

  • Stumpft die Fixierung auf den Genozidbegriff uns gegen neue Genozide ab?


    A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur, Berlin (Matthes & Seitz) 2023, 160 S.

    „Nach dem Genozid“ – es ist schwer, in diesen Tagen den Titel der 2023 auf deutsch erschienenen, stark gekürzten Fassung von Dirk Moses’ epochalem 600-Seiten-Werk „Problems of Genocide“ nicht auf Gaza zu beziehen, wo es bald kein palästinensisches Leben mehr geben dürfte. Aber gerade in Bezug auf Gaza hat auch die andere, eigentliche Bedeutung des Titels einen Sinn: dass der Genozidvorwurf selbst nicht taugt, um diese Verbrechen zu verhindern, und die Verbrechen eher verschleiert als klärt. Während sich die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass es sich beim Vorgehen Israels in Gaza tatsächlich um einen Genozid handelt, ist es für Zehntausende von getöteten Menschen schon zu spät, und man ahnt, dass die Fixierung auf das Genozid-Paradigma selbst dazu beigetragen haben könnte. Die Institutionen des Völkerrechts kollabieren, und im Moment dieses Niedergangs werden ihre Geburtsfehler sichtbar.

    In Moses’ deutschem Buch ist, anders als in der englischen Vollversion, von Palästina fast nicht die Rede. Die zeitgenössischen Fallbeispiele sind vor allem das russische Vorgehen in der Ukraine, aber auch Sudan, Syrien, Myanmar, China. Es wurde vor dem 7. Oktober fertig gestellt und nimmt wohl auch Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten. Seine große These ist aber auch ohne expliziten Bezug auf Palästina mit der Staatsräson-getriebenen deutschen Erinnerungskultur inkompatibel. Sehr kurz zusammengefasst die These: Laut Genozid-Konvention 1948 sollten Verbrechen wie der Holocaust in Zukunft verhindert werden. Doch ihre Unterscheidung zwischen militärischen und genozidalen Intentionen (die ersteren zielen auf Niederschlagung, die letzteren auf Vernichtung) ermöglichten es genozidaler Kriegsführung, also Kriegen mit Vernichtungsabsicht, sich der engen Definition der Genozid-Konvention zu entziehen.

    Moses sagt, dass genozidale wie auch andere Formen der Massengewalt gegen Zivilist:innen von einer Pseudo-Rationalität getrieben werden, nämlich dem Streben nach einer „permanenten Sicherung“ durch Verhinderung antizipierter Angriffe. Das äußert sich in den Begrifflichkeiten der „Sicherheit“, der „Vorbeugung“, der „Endlösung“ etc. Die Pseudo-Rationalität der dauerhaften Sicherung rechtfertigt auch Massentötungen und Belagerungen von Zivilist:innen in nicht oder noch nicht genozidalen Kriegen, die Widerstand und Bedrohung nicht antizipieren, sondern darauf reagieren: mit Flächenbombardierungen und Drohnenangriffen, mit dem Einsatz der Atombombe, mit Aushungern und langsamem Sterbenlassen, mit Kolonialverbrechen aller Art. In der Praxis gehen militärische und genozidale Logiken und Intentionen Hand in Hand und sind miteinander verflochten. 

    Dass in Konflikten, wo es letztlich um Widerstandsbekämpfung geht, aus jedem Kind ein Terrorist werden und jeder unschuldige Mensch ein „human shield“ sein kann, macht grässliche Verbrechen möglich, die dann für die Zuschauer quasi unmerklich ethnisch und rassistisch aufgeladen in Genozide übergleiten können. Die Betroffenen wissen natürlich von Anfang an, welch verbrecherischer Dynamik sie ausgesetzt sind. Aber die Täter, die Bystander, die Komplizen können sich die Verbrechen schönreden, mit Verweis auf Verteidigung und dauerhafte Sicherung. „Nie wieder Hamas“ resultiert unter der Maßgabe der permanenten Sicherung zwangsläufig in der Zerstörung Gazas, in der Massentötung von palästinensischen Zivilist:innen und in ethnischer Säuberung, unter dem „humanitären“ Vorwand, das sei auch im Interesse der Bevölkerung. 

    Die deutsche Mehrheitsgesellschaft – in Medien, Politik, und auch in Fachkreisen – hat bis heute Dirk Moses nicht verziehen, dass er den „Katechismus“ ihrer staatlich sanktionierten Erinnerungskultur durch schlichte Beschreibung seiner Bestandteile bloßgelegt hat. Moses hatte mit seiner Intervention lediglich vorgeschlagen, die völkischen Vorannahmen der Erinnerungskultur loszuwerden und sie so weiterzuentwickeln, dass sie inklusiv für Opfererinnerungen wird, die von der Singularitätsthese mit ihrer Fixierung auf Ideologie verdeckt werden.

    Der „Historikerstreit 2.0“, oder wie immer man ihn nennen soll, zeichnet sich in Deutschland nun leider unter anderem auch dadurch aus, dass Dirk Moses bis heute regelmäßig diffamiert und in die Nähe von Holocaustverharmlosern und ‑relativierern gerückt wird. Eine Diskursanalyse der Selbstwidersprüche und empirischen Falschheiten, mit denen in deutschen Medien sein Ruf zerstört wurde, steht aus. „Moses und andere wollen weder in der Shoah noch im NS-Antisemitismus spezielle Qualitäten erkennen, die den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden von kolonialen Genoziden fundamental unterscheidet“, muss man jetzt gerade wieder in der Mai-Ausgabe der „Sehepunkte“ lesen, und keine deutschen Fachkolleg:innen nehmen Moses gegen diese abstruse Verleumdung in Schutz. Natürlich weiß Moses um die „speziellen Qualitäten“ des Holocaust und um die Unterschiede zu den kolonialen Genoziden. Aber er analysiert sie eben im historischen Zusammenhang, mit der besonderen Temporalität, die der Holocaust hatte: 

    „Sie planten die Eliminierung feindlicher Gruppen im Voraus. Anders als ‚klassische‘ imperiale Gewalt war ein Großteil ihrer Gewalt dementsprechend vorsätzlich geplant. Sie versuchten, der Geschichte eine Richtung vorzugeben. So gesehen markieren das nationalsozialistische Reich und dessen berüchtigte Vernichtungspolitik den Kulminationspunkt jahrhundertelanger Imperienbildung sowie denjenigen der Vernichtung von in- wie ausländischen Feind*innen, seien sie real oder eingebildet. Dieses imperiale Projekt stand unter dem Zeichen eines ‚Erlösungsimperialismus‘, weil es, wie Hitler sagte, zur historischen ‚Lösung der deutschen Frage‘ führen würde, für die ‚es nur den Weg der Gewalt geben‘ könne. Der ‚Erlösungsantisemitismus‘ der Nationalsozialist*innen war ein integraler Bestandteil dieses Projekts, schließlich bedeutete die Vernichtung ‚der Juden‘ für sie auch eine grundlegende Antwort auf ‚die deutsche Frage‘.“ (S. 104–105) 

    Die selbstwidersprüchlichen, gehässigen und verständnislosen Unterstellungen,  die in Deutschland sonst noch gegen ihn vorgebracht wurden, sind teilweise an anderer Stelle widerlegt worden, aber diese Arbeit ist wohl müßig. Die deutsche Erinnerungskultur muss sich endlich davon befreien, die „Lehre aus dem Holocaust“ nationalistisch misszuverstehen. Mit Staatsräson und permanenter Sicherung ist einem neuen Massenmord an Juden, wie am 7. Oktober 2023 geschehen, nicht beizukommen. Stattdessen wird Deutschland sich immer tiefer in Verbrechen und sich vollziehende Genozide verstricken. Wie jetzt in Gaza. Darum geht es Dirk Moses.

    https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/nach-dem-genozid.html

  • Zur Auseinandersetzung um das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas

    Alexandra Senfft: Ignorierte Opfer. Sinti und Roma kämpfen weiter um die Erinnerung an den NS-Völkermord, Forum Wissenschaft (2025) 1, 29-32. 

    Das Bekenntnis Deutschlands zur Erinnerung an den Holocaust und zu den historischen Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Jüdinnen und Juden ist inzwischen weitgehend ritualisierter Bestandteil staatspolitischen Auftretens. Für die andere Opfergruppe, die der Nationalsozialismus vollständig vernichten wollte, die Sinti und Roma, gelten diese deutschen Bekenntnisse weit weniger, obwohl sie mit gleicher brutaler Systematik entrechtet und ermordet wurden wie Jüdinnen und Juden. Nach dem Krieg blieb eine Anerkennung des Porajmos, des Genozids an ihnen, lange Zeit aus. Bis heute erfahren sie Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung und stehen bei Anlässen des kollektiven Erinnerns meistens am Rand – wenn sie überhaupt in Erscheinung treten.

    Alexandra Senfft schildert als einen besonders aufschlussreichen Fall die Auseinandersetzungen um das Denkmal im Berliner Tiergarten, das an die vom NS-Regime ermordeten Sinti und Roma erinnert. Erst 2012 konnte es – nach langem institutionellem Widerstand und zähem Hinhalten der Politik – eingeweiht werden. Die Gestaltung stammt vom israelischen Künstler Dani Karavan (1930–2021), der eine aus Klang, Skulptur und Natur zusammengesetzte Architektur, umgeben von Bäumen, schuf. Doch seit 2020 planen der Senat und die Deutsche Bundesbahn eine neue S-Bahn-Trasse „S21“, deren zweiter Bauabschnitt das Denkmal untertunneln wird. Zunächst sollte das Denkmal dafür vollständig abgetragen, dann vorübergehend entfernt werden. Es wurde schließlich eine Lösung gefunden, die die Architektur selbst halbwegs intakt halten wird, aber man muss damit rechnen, dass die umliegenden Bäume, die integraler Teil des Konzepts sind, gefällt werden. Für viele Sinti und Roma bedeutet das eine Entweihung des Ortes. 

    Der 2021 verstorbene Dani Karavan trug 2020 den Protest der Sinti und Roma mit und beklagte, „dass man mit dem (2005 eröffneten) Denkmal für die ermordeten Juden Europas niemals so umgegangen wäre“. Senfft beschreibt, wie Karavan schon bei der Arbeit an dem Denkmal stark aufgefallen war, „dass Romanes-sprachige Menschen als Opfer zweiter Klasse betrachtet werden: ‚Als Jude kann ich das sagen. Man interessiert sich für die Sinti und Roma nicht.‘“ Die Familie Karavans hat im Juli 2024 einen Protestbrief gegen die S-Bahn-Trasse mitinitiiert, der von zahlreichen Kunst- und Kulturschaffenden unterzeichnet wurde. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, dass die Risiken einer Beschädigung des Denkmals ernstgenommen würden – obwohl man wohl froh sein muss, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. 

    Ich finde diesen Fall aus zwei Gründen besonders interessant, die in dem Beitrag nicht reflektiert werden: Zum einen zeigt der Einsatz der Familie Karavan eine opferübergreifende Solidarität, die man auch in vielen anderen Konstellationen beobachten kann. Angehörige von Holocaustopfern setzen ihre Positionalität ein, um Angehörigen von Opfern des Porajmos zu helfen. Es setzen sich auch heute Juden, jüdische Israelis für Palästinenser:innen ein; Ukrainer:innen sind ebenfalls mit Palästinenser:innen solidarisch, Rom:nja ebenso; Palästinenser:innen solidarisieren sich wiederum mit Sudanes:innen, usw. Aus der gemeinsamen Erfahrung der Marginalisierung und Entrechtung und des drohenden oder vollzogenen Genozids entsteht Widerstand gegen die Versuche der Mehrheitsgesellschaft, die Opfergruppen gegeneinander auszuspielen und die einen gegenüber den anderen zu privilegieren. 

    Zum anderen weist der Fall weist aber auch noch darüber hinaus. Es hat für die Durchsetzung und den Erhalt des Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma in der deutschen Erinnerungskultur sicherlich sehr geholfen, ja, war möglicherweise entscheidend, dass Dani Karavan Jude war; dass er auch Israeli war, mag weiterhin nützlich gewesen sein. Aber dieser Einsatz jüdisch-israelischer Positionalität in der deutschen Erinnerungskultur ist voller Ambivalenz. Karavans erste große Denkmal-Architektur war ein Monument für die Palmach-Brigade in der Negev-Wüste, in der Nähe von Beersheba in den Jahren 1963 bis 1968 erbaut – ein Ensemble aus Beton, Wüstenakazien, Wasser und Windorgeln. Die Palmach waren zionistisch-gemäßigte Paramilitärs, die vor der Gründung Israels mit den Briten zusammenarbeiteten und einerseits Siedlungen gründeten und verteidigten, andererseits die zionistisch-extremistischen Terrororganisationen der Irgun bekämpften. Wenn die Schlacht bei El-Alamein gewonnen worden und Nazi-Deutschland in Palästina einmarschiert wäre, hätten die Palmach die dort lebenden Juden gegen ihre sichere Ermordung im Holocaust verteidigt. Stattdessen kämpften sie im Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Staaten und waren maßgeblich an der Nakba beteiligt. In der Negev, wo Karavans Denkmal an die Palmach erinnertsteht, übernahmen sie die ethnische Vertreibung der palästinensischen Bedouinen aus ihren Dörfern; diese hatten 48 Stunden Zeit, um sich nach Gaza zu begeben. Als Karavan 1963 mit der Arbeit an dem Denkmal begann, war es gerade erst 15 Jahre her, dass die gesamte arabische Bevölkerung Beershebas vertrieben oder in Massakern getötet worden war.

    Aus einer verengten antizionistischen Perspektive mag die Positionalität Karavans und seine Annahme von Staatsaufträgen wie für das Palmach-Denkmal ihn für ein Denkmal an die ermordeten Sinti und Roma disqualifizieren. Ich sehe es aber anders: Ich  würde mir wünschen, dass eine ganzheitliche Problematisierung dieser erinnerungspolitischen und erinnerungskulturellen Zusammenhänge möglich wäre. Das Denkmal im Tiergarten ist für die Gemeinschaft der Roma und Sinti wichtig und wird von den Angehörigen der Opfer als ein Ort des Gedenkens angenommen – während das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ von Anfang an, nach den Worten Paul Spiegels, nur „das offizielle Denkmal der Bundesrepublik Deutschland“ war, und kein „Gedenkort der Juden in Deutschland“. Der Wunsch der Rom:nja nach einem respektvollen, und das heißt auch nicht ritualisierten, nicht bürokratisierten und nicht politisierten Umgang mit dem Denkmal muss respektiert werden. Gleichzeitig sollte der Preis, der für eine staatliche Anerkennung des Opferstatus in der offiziellen Erinnerungskultur immer bezahlt werden muss, und den in diesem Fall wieder einmal die Palästinenser:innen zahlen, reflektiert werden. Denn nur so kann man verhindern, dass die Solidarität zwischen Opfergruppen exklusiv wird und ihrerseits Marginalisierung hervorbringt. 

    https://www.bdwi.de/show/11261854.html

  • Peter Beinhart im Gespräch mit Karen Attiah über Jüdischsein

    Peter Beinart: Being Jewish After the Destruction of Gaza: A Reckoning, Gespräch mit Karen Attiah, Bookstore Politics and Prose, Washington DC, 25. Februar 2025.

    Hier „picke“ ich ein Gespräch mit Beinhart, geführt mit Karen Attiah, am 25. Februar 2025 in einem überfüllten Buchladen in Washington DC, das ich besonders bewegend finde. Er ringt – auf der Grundlage seines jüdischen Glaubens und seines Verständnisses von jüdischer Tradition – um konkrete Antworten auf konkrete ethische Fragen angesichts der Zerstörung Gazas und des andauernden Genozids an den Palästinenser:innen. Dass so viele jüdische Gemeinden sich über den Zionismus und über Israel definieren und Apartheid und Genozid mit dem Schutz des Judentums legitimieren, versteht er auch als Ausdruck einer spirituellen Armut und der Trivialisierung jüdischer Traditionsbestände. Fast immer werde die Geschichte des jüdischen Volkes nur als Geschichte von Opfern und von Selbstbehauptung erzählt: das jüdische Volk in einem Überlebenskampf mit dem absolut Bösen, mit „Amalek“. Dabei werde übergangen, dass in den biblischen Geschichten auch Jüd:innen Täter sind und, wie jedes Volk, Massenverbrechen begehen können. Für die spirituelle Praxis und ethisch-religiöse Bildung sei es jedoch wichtig, die Möglichkeit zu berücksichtigen, selbst Täter zu sein. Er ruft ein Judentum auf, in der Jüd:innen gleiche Rechte benötigen und beanspruchen, wo immer sie leben, und nicht die Suprematie eines Staates, der die Selbstbestimmungsrechte und Menschenrechte von Nichtjuden verletzt . 

    Beinhart erzählt von Freunden und Verwandten, „loved ones“, die wegen seiner klaren Haltung zum Genozid den Kontakt zu ihm abgebrochen haben. Er erklärt ihr Schweigen und ihre Abwendung damit, dass sie schlechtere oder gar keine Argumente haben. Sie können sich aufrichtigen Diskussionen nicht stellen und wollen nicht zuhören. Aber es ist sehr eindrucksvoll, dass und wie seine leidenschaftlichen Stellungnahme nie moralisch überheblich oder verhärtet klingt. Er entzieht sich der Instrumentalisierung der Geiseln und den „Empathie“-Bekenntnissen, und um so glaubwürdiger wirkt die Empathie, die er für die Geiseln zeigt, auch in der gemeinsamen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. 

    Im Gespräch gibt es eine längere Passage, in der er über seine Erfahrungen in Südafrika spricht, wo sich ebenfalls eine suprematistische Elite aus Angst vor dem durchaus gewaltsamen Widerstand und der Rache der ANC die Abschaffung der Apartheid nicht vorstellen konnte. Die Geschichte Südafrikas und auch Irlands lehren, dass die eigene Sicherheit zunimmt, wenn ein Unterdrückungsregime endet, weil dann terroristischer Widerstand überflüssig wird. Diese Erkenntnis will Beinhart auf Israel/Palästina übertragen. Aber hört am besten selbst: 

    ↗ https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=yBwLLJM1EGw

  • Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Folterstaat, Kleptokratie, Salafismus und die Krise der Darstellung

    Foto: Hossam el-Hamalawy

    Syrien, wenige Monate nach dem Fall der Assad-Diktatur: Noch immer sind weit über 100.000 vom Regime entführte Opfer verschollen, fast täglich werden neue Massengräber entdeckt. Die meisten von ihnen zu Tode gefoltert; davon müssen zumindest die Angehörigen der Verschwundenen ausgehen. Zehntausende, die an dem Foltern und Morden beteiligt und in den „Politizid“ schuldhaft verstrickt waren, laufen frei herum. Für „transitional justice“ – seien es Gerichtsprozesse oder Wahrheitstribunale – gibt es auf absehbare Zeit keine Ressourcen, keine Kraft, keine Strukturen. Die von Assad über Jahrzehnte unterdrückte und ausgeplünderte Bevölkerung lebt in unbeschreiblicher Armut. Der Westen hält seine Sanktionen aufrecht, niemand im Westen protestiert gegen die völkerrechtswidrigen Invasionen und Bombardierungen durch Israel. Assad-Anhänger, die ihre Privilegien verloren haben, verüben immer wieder Anschläge auf die Sicherheitskräfte des neuen Regimes. Das neue Regime schafft es nicht, will es wohl auch nicht schaffen, eigene Leute und konkurrierende Banden von Rachefeldzügen gegen die Bevölkerungsgruppe abzuhalten, aus der die Assad-Anhänger vor allem stammen. Und auch wenn neuen Massakern Einhalt geboten werden sollte, droht am Horizont wieder ein neuer Genozid, diesmal an den Alewiten.

    Die Bundesrepublik hat über einer Million Menschen aus Syrien Zuflucht geboten, macht sich von der politischen Situation des Landes aber keine Vorstellung. Schnell begnügt man sich mit der bequemsten Erklärung: Syrien ist, so heißt es, eben ein Vielvölkerstaat in einem bald latenten, bald offenen Bürgerkrieg. Das Assad-Regime habe immerhin Minderheiten lange einen gewissen Schutz geboten, nun aber bedrohe die sunnitische Mehrheit in einer „nie dagewesenen Islamisierung“ Alewiten, Christen und Drusen. Diese Erklärung passt zu den Rechtfertigungsnarrativen der gescheiterten deutschen Syrienpolitik, die schon 2013 mit Verweis auf „Dschihadisten, Terroristen und Extremisten in Syrien“ und die von ihnen bedrohten „Alawiten und Christen“ dem mörderischen Regime nichts entgegensetzen wollte. 

    Die syrischen Intellektuellen und Studierenden, die den demokratischen Widerstand gegen das Assad-Regime 2011 und folgende mittrugen und nach 2013 nach Europa geflohen sind, erzählen aber eine andere, eine kompliziertere Geschichte; eine Geschichte, in die Europa und die USA immer schon verstrickt sind. Sie sprechen von ”Konfessionalisierung“ (auf englisch besser: „sectarianism“) und sehen die Ursachen dafür nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, im Dominanzanspruch des sunnitischen Islam, sondern in den Herrschaftstechniken, die das Assad-Regime in über 50 Jahren zur Perfektion gebracht hat. In einem 2022 auf Französisch erschienenen Schwarzbuch der Assads sind diese im Detail nachzulesen.

    Diese Herrschaftstechniken der Spaltung und der Unterdrückung und gleichzeitigen Instrumentalisierung von Identitäten wurden begleitet von systematischer, erfindungsreicher Folter als allgegenwärtiger Möglichkeit. Die Folter hatte seit Anfang der 1970er Jahre in „Suriya al-Assad“, dem mit Assad identifizierten totalitären Polizeistaat, allmählich von der ganzen syrischen Gesellschaft Besitz ergriffen und konnte seit dem Beginn der Revolution 2011 jeden treffen, auch Frauen und Kinder. Das verkörperte Wissen um die Folter und ihre allgegenwärtige Möglichkeit, in der Assad’schen Ausprägung, kam mit der Massenflucht aus Syrien seit 2013 nach Deutschland. Als ich 2015 meine ersten Begegnungen mit syrischen Geflüchteten hatte, war die Konfrontation mit der Allgegenwart der Möglichkeit von Folter in ihren Erzählungen, in ihren Körpern, das, was meine Sicht auf die Welt – auch auf meine Welt in Deutschland und Europa – am nachhaltigsten veränderte. Syrische Studierende erzählten mir Albträume, die ich nie vergessen werde. Der Filmproduzent Orwa Nyrabia zeigte den Dokumentarfilm Silvered Water. Syria Self-Portrait, der zahllose Handy-Aufnahmen nicht nur von Bombardierungen und Kriegsszenen, sondern auch von Gefängnisfolter zu einem Kunstwerk verarbeitet; unter lebensgefährlichem Einsatz der syrisch-kurdischen Dokumentarfilmerin Wiam Simav Bedirxan und der Regie des nach Paris geflüchteten Regisseurs Ossama Mohamed. Später las ich Mustafa Khalifas autobiographischen Roman Das Schneckenhaus 

    Ein hervorragender Opferzeuge und Denker dieses staatlichen Terrors ist der in Berlin lebende politische Autor und Journalist Yassin Al-Haj Saleh. Er hat 2023 bei Matthes & Seitz in deutscher Übersetzung ein Buch über die Folter in Syrien und ihre Darstellung herausgebracht, zu einem Zeitpunkt, als die Assad-Diktatur, die sich als „ewig“ bezeichnete, fester im Sattel zu sitzen schien denn je. Dass Assad jetzt Vergangenheit ist, macht das Buch aber nicht weniger aktuell. Die in dem Buch zu einem einheitlichen Werk zusammengefassten Texte waren zunächst auf arabisch in unterschiedlichen Kontexten erschienen. Sie zeigen Verbindungen zwischen der Folter, dem Konfessionalismus und dem Salafismus auf, die immer noch wirken und auch in den sogenannten Westen weisen. Yassin Al-Haj Saleh hat selbst während seiner 16jährigen Haft (noch unter dem Vater Assad, zwischen 1980 und 1996) Folter erfahren; verurteilt als Mitglied einer kommunistischen Partei. Die an ihm begangene Folter war so, dass sie keine irreversiblen Schäden hinterließ; er konnte sie überwinden. Doch wurde er Zeuge der schrecklichsten und fürchterlichsten Foltern, mit denen die Anhänger der Muslimbrüderschaft gebrochen werden sollten: Folter, von der kein Mensch ins Leben zurückkehren kann.

    Das Buch bietet nicht weniger als eine politische Anthropologie der Folter. Saleh unterscheidet zwischen Foltern, die ein Weiterleben nicht ausschließen, und solchen, die den Tod nach sich ziehen; den Tod unter Folter und den Tod durch Folter; Foltern, die an Individuen begangen werden, und Foltern, die ein Kollektiv treffen. Das Buch ist voll von solchen Unterscheidungen, um Folter systematisch zu begreifen. Saleh erdachte sich wohl schon während der Haft und dann nach seiner Entlassung die Konzepte und Begriffe und Typologien, um seine Erfahrungen nicht literarisch, sondern politologisch-sozialwissenschaftlich zu verarbeiten. Er ist ein vielbelesener Autodidakt, nicht Teil des akademischen Betriebs, aber auch kein Journalist im engeren Sinne. Sein Schreiben ist nicht berichtend oder kommentierend, sondern immer analytisch, ordnend, konzeptionell. Er will seine Leser:innen dazu bewegen, der allgegenwärtigen Möglichkeit von Folter kühl, nüchtern ins Auge zu blicken und sie als eine extreme Erscheinungsform politischer Gewalt zu verstehen, die durch das kollektive implizite Wissen um sie einen Kreislauf der Vernichtung in Gang setzt.

    Er unterscheidet phänomenologisch drei Folterarten, in Bezug auf die Grenzen, die sie überschreiten, und auf ihre intendierten Wirkungen: Erstens die klassische Ermittlungs- oder Verhörfolter, die die Grenzen des Gefolterten überschreiten, um Geständnisse oder Informationen zu erpressen. Hier hilft die Unterwerfung und der Verrat, um die Folter zu beenden. Zweitens die Demütigungs- und Rachefolter, oder auch die Abschreckungsfolter, die willkürlich und unberechenbar ist, die eine unvergessliche Lektion erteilen soll, die der Gesellschaft als Ganzes gilt, ihr den unbedingten Gehorsam einpflanzen und Resistenzen insgesamt auflösen soll. Und drittens die Vernichtungsfolter, die nicht nur die Grenzen der Gesellschaft, sondern die Grenzen der Menschheit überschreitet, in der es kein Ermessen mehr gibt, die eine organisierte Mordindustrie erfordert. Ihr reicht als Vergehen, dass der Gefolterte überhaupt existiert. 

    Weiterhin unterscheidet Saleh die verschiedenen Ebenen der Folter: die Beziehungsebene zwischen dem Folterer und dem Gefolterten, auf der die Folterhandlung stattfindet; die Ebene des Apparats, des Betriebs, den es für die Folter benötigt; die Systemebene – Folter als Staat und als Ökonomie; und schließlich die Ebene der Welt, die die Folter geschehen lässt, um sie weiß und dabei von der Folter zerstört wird. Die intime Kenntnis dessen, wie Folter im Assad’schen Syrien funktioniert hat und was sie anrichtet, offenbart sich in dem Buch in zahlreichen Beobachtungen, die die Schrecklichkeit der Folter anschaulich machen, ohne je blutige Einzelheiten auszubreiten. Er beschreibt die Psychologie der Folter, wo die Angst des Gefolterten dem Hass des Folterers gegenübersteht. Beide werden entmenschlicht, indem der Folterer in der Macht über den Körper Gott gleich wird, der Gefolterte hingegen zur Sache. Damit der Folterer in der Folterbeziehung standhalten und den kalten oder heißen Hass für das Foltern aufbringen kann, muss er den Gefolterten eines Verbrechens beschuldigen, und dieses Verbrechen liegt in der Abweichung von dem Willen Assads. Um vom Willen Assads abzuweichen, reicht es, ein Mensch zu sein. Der Folterer reklamiert bedingungslose Liebe zu Assad, ist total mit Assad identifiziert und fordert eine Unterwerfung, die nie genügt. Paradoxerweise erleichtert die Folter dem Mörder die Schuld, hier zitiert Saleh Primo Levi: „Bevor das Opfer starb, musste es erniedrigt werden, damit der Mörder das Gewicht seiner Schuld nicht so spürte.“ 

    In dem Ziel der Vernichtung von Gemeinschaften, der Überflüssigmachung von Menschen und der Vernichtung von Welthaltigkeit überhaupt sieht er die Gemeinsamkeit genozidaler Regime. Assad-Syriens Massenmorden war unterhalb eines industriellen Niveaus, ein „manufakturhaftes System“, nicht unpersönlich und systematisch wie unter den Nazis, sondern mit Hingabe betrieben, kreativ, direkten Körperkontakt erfordernd, Gewohnheiten und Neuerfindungen verbindend. Während die Todesökonomie der Nazis kapitalistisch und irrational gewesen sei, diente sie unter Assad, obwohl auch Syrien eine hochgradig bürokratisierte Diktatur war, der in die äußerste Konsequenz getriebenen Rentierwirtschaft einer Familienherrschaft. Folter, auch in der Form von Aushungern und der Verweigerung des Zugangs zu überlebenswichtigen Gütern, sowie in der Form des Bombenterrors und des willkürlichen Zufügens von Schmerzen durch gegen Zivilist:innen gerichtete Angriffe, steht mit genozidaler Vernichtung in einem merkwürdigen Verhältnis. Die Vernichtungsfolter foltert auf den ersten Blick unnötig, da die Opfer so oder so sterben werden; ihr Sinn liegt darin, dass die Gemeinschaft, die vernichtet werden soll, weiß, dass Folter schlimmer ist als der Tod. Sie erkennt aber auch an, dass sie es mit Menschen zu tun hat, die erst entmenscht werden müssen, bevor man sie tötet. Für den Holocaust hingegen war Foltern, auch wenn es häufig vorkam, keine Notwendigkeit, so Saleh: „Demgegenüber verspürten die Nazis keinerlei Notwendigkeit, die Juden zu foltern, behauptete ihre rassistische Theorie doch apriori, um das bösartige Wesen der Juden zu wissen, womit diese von vornherein von jeder Gleichheit ausgeschlossen waren“ und „wie Läuse“ betrachtet wurden, so ungleich und bereits entmenscht, dass sie sozusagen der Mühe der Folter nicht wert waren.  

    Saleh schreibt auch zum Zusammenhang von Folter und Vergewaltigung: Beides verleiht absolute Macht über den Körper. Die Folter an Männern in Syrien war vom gleichen Chauvinismus getrieben, fand in der gleichen machistischen Geschlechterordnung statt wie die Vergewaltigungen der Frauen, mit einer Männlichkeitsvorstellung, die mit der Folter den männlichen Konkurrenten ausschalten und mit der Vergewaltigung die Frau schrankenlos besitzen will. Die Vergewaltigung ist Teil der genozidalen Vernichtung, sie soll die Gemeinschaft unfähig zur Fortpflanzung machen, als „aufgeschobener Mord“. Saleh sieht im IS und im Assad-Staat zwei Varianten systematischer Vergewaltigung: Während im IS, religiös verbrämt, ein Mann viele Frauen besitzt und vergewaltigt, vergehen sich im angeblich säkularen Terrorstaat viele Männer an einer Frau. (Ob diese Unterscheidungen empirisch immer haltbar sind, ist eine andere Frage; man muss sie idealtypisch verstehen.) Die seit den 1970er Jahren sich sukzessive immer mehr durchsetzende Verschleierung von Frauen in Syrien ist jedenfalls nicht nur eine Begleiterscheinung der zunehmenden Islamisierung, sondern reagiert auch auf die Vergewaltigungsbedrohung im Folterstaat. 

    Die syrische Revolution in ihren Anfängen versteht Saleh als einen Kampf der Syrer:innen um die „Würde ihrer Körper“: um einer Staatsgewalt Grenzen zu setzen, die bei der Verletzung der Würde von Körpern zu jeder Grenzüberschreitung fähig war und bei der Bekämpfung der Revolution dann genau dies im Exzess demonstrierte. 

    Der sogenannte Westen, Nord-Amerika und Europa, hat der grausamen Niederschlagung der syrischen Revolution weitgehend tatenlos zugesehen. Die „roten Linien“, die Barack Obama 2012 für den Fall des Einsatzes von Chemiewaffen gezogen hatte, wurden 2013 mit den Sarin-Angriffen auf Ghouta und mit vielen weiteren chemischen Angriffen überschritten, ohne dass die USA auch nur eine Flugverbotszone über Syrien eingerichtet hätten. Der Anteil des „Westens“ an der Entstehung und Stabilisierung des Assad-Regimes geht aber noch weit über das bloße Zusehen von Kriegsverbrechen hinaus. Die Destabilisierungen der jungen Demokratien im Mittleren Osten bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch kolonialistische und imperialistische westliche Machtpolitik und Kriege, durch die Nakba und die sukzessiven Massenfluchtbewegungen aus Israel/Palästina und durch das Insistieren auf einem konfessionell gebundenen jüdischen Staat, der westlichen Interessen verbunden war, untergrub die Legitimation der rechtsstaatlichen und demokratischen Bestrebungen in den arabischen Ländern. Dem Anspruch und der konstitutionellen Form nach war Syrien seit 1946 eine nicht konfessionell gebundene Republik. Konfessionelle Zugehörigkeiten und Identitäten wurden geleugnet und unterdrückt. Gerade der angebliche Säkularismus machte Syrien und seine Machthaber nach dem Ende des Kalten Krieges im Westen akzeptabel. Dabei hatte die Assad-Familie seit ihrer Machtübernahme 1970 den syrischen Sicherheitsapparat und die meisten wichtigen Positionen mit ihr loyalen Alewiten besetzt, die Konfessionen systematisch gegeneinander ausgespielt, den Konfessionalismus angeheizt und ihn als Waffe eingesetzt. Nach dem Generationenwechsel von Vater auf Sohn Assad war es gerade diese Form der „Minderheitenprivilegierung“ und des Doppelstaates, die das Assad-Regime unter dem in London ausgebildeten Bashir al-Assad als modern und potentiell dem Westen zugewandt erscheinen ließ.

    Der „Krieg gegen den Terror“ seit 9/11 gab dem Kampf des Assad-Regimes gegen die Muslimbruderschaft und die Islamisten erst richtig Schubkraft. Auch wenn es der Iran und Russland waren, die die militärische Unterstützung lieferten, ohne die das Regime sich 2013 nicht hätte halten können und ohne die es im Dezember 2024 dann auch prompt kollabierte: Der im Westen produzierte antimuslimische Rassismus half dem Regime bei der Ausbildung und Erhaltung der mörderischen Kleptokratie. Für Kleptokratien sind Ethnien, Zugehörigkeiten und Konfessionen nur ein Instrument, um die Bevölkerung zu spalten und sich äußeren Mächten anzudienen; ein Vorwand, um jede Freiheitsregung zu unterdrücken und die unterworfene Bevölkerung auszuplündern. Das hat das Assad-Regime durch Erpressungen, Geiselnahmen, Raubüberfälle in bisher nicht gekanntem Ausmaß gemacht. Das kleptokratische Regime konnte sich nach außen als Schutzherr von Minderheiten gerieren, die es begrenzt privilegierte und die vor allem deshalb, wie von vornherein beabsichtigt, von der sunnitischen Mehrheit gehasst wurden. Die antimuslimische Aufladung der Terrorismusbekämpfung und der Rassismus, dem ein gut rasierter und gut gekleideter massenmordender Bashar al-Assad mit seiner hübschen, in England aufgewachsenen Frau „zivilisierter“ erscheint als ein bärtiger Islamist, den man auch ohne Fernsehton Allahu Akbar rufen hört, verschafften ihm die internationale Legitimation oder Duldung für seine Verbrechen. 

    Yassin Al-Haj Saleh nennt das den „konfessionell-rassistischen Komplex“: „die Welt der Identitäten und Abstammungen“, die das Umfeld für die Genozide bilden. In der Darstellung des Schrecklichen wird erkennbar, dass der Assad-Staat eben nicht nur ein syrischer Sonderfall war, sondern eine „strukturelle Entsprechung“ in den internationalen Beziehungen hat. Das Völkerrecht selbst zeigt hier seine asymmetrische Seite, die sich mit den Diktaturen an der Peripherie seiner tragenden Mächte arrangiert. Die Foltern des Assad-Regimes können überall blühen. Sie sind nur die letzte Konsequenz einer „modernen“ Haltung, die skrupellos und räuberisch die eigenen Interessen durchsetzt und sich dafür des Rassismus bedient. Sie sind im Grunde eine Neuauflage der Quälereien und Foltern des Kolonialismus, während noch vorhandene Bindungen an irgendwelche Vorstellungen von Recht nicht mehr nur versteckt, sondern offen aufgekündigt werden. Der Islamismus reagiert darauf, indem er sich „salafisiert“ und seinen eigenen konfessionell-rassistischen Komplex ausbildet. Die Geschichte des Assad-Folterstaats kann diejenigen unter uns, die nicht – oder nicht mehr oder noch nicht – vor Folter Angst haben müssen, lehren, Folter nicht mehr als das Problem von anderen zu externalisieren, sondern als Signatur von in Geiselhaft genommener, dysfunktionaler moderner (National)staatlichkeit zu verstehen. 

    Der letzte in dem Buch abgedruckte Text, vielleicht der interessanteste, widmet sich schließlich dem Problem der Darstellung von Folter und der Vermittlung des Schmerzes, die diesen erst kollektiv, das heißt politisch verarbeitbar macht. Saleh versteht Darstellung als eine „Kombination von Ausdruck (die Erfahrungs- bzw. Ideenachse) und Gestaltung (Überlieferungsachse)“. Gestaltung ist undenkbar ohne eine Überlieferung, in die sie sich einschreiben kann. Aber die Überlieferung kann selbst nicht die neuen Darstellungsformen bieten, die für den Ausdruck neuer Erfahrungen gebraucht werden. Die „Darstellung des Schrecklichen“ ist auf existierende Formenbestände des politisch-sozialen Denkens einerseits angewiesen, muss sie andererseits kreativ weiterentwickeln. Wie kann das dem arabischen politischen Denken der Gegenwart gelingen? Hier sieht Saleh das eigentliche Problem des Islamismus: Wie jede traditionalistische Ideologie ist er zwar durchaus gestalterisch, doch sein Ausdruck, seine Subjektivität, ist auf Konflikt und Negation beschränkt. Dem erfahrenen Leiden, dem Gefoltertwerden, den Traumata, kann er keine Bedeutung, keine Darstellung geben, weil das das islamistische Traditionsverständnis herausfordern würde. Alles Erlittene, so will es die Ideologie, darf nur im Rahmen des Überlieferten ausgedrückt werden. Saleh zitiert die marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri und Abdallah Laroui: Im arabischen Denken gebe es einen besonderen Mechanismus, der das „Verborgene“, das „Ungelöste“, das „Problem“ – all jenes eben, an dem man leidet – immer an einem „Beleg“ messe. „Der ‘Beleg’ ist in der islamischen Rechtslehre ein Thema, zu dem bereits ein religiöses Urteil vorliegt.“ Dieses Denken in Analogien validiert alle Erfahrung nur anhand eines vorliegenden, autoritativen Textes. Liegt für eine zu verarbeitende Erfahrung kein geeigneter Text vor, wird die Erfahrung zur Abweichung und muss aufgegeben und ausgegrenzt werden. Eine „Darstellungsverweigerung“ – von der Laroui annahm, dass sie selbst „von einem als unerträglich empfundenen historischen Trauma herrührt.“ Laroui hatte über ein in vorislamische Zeit zurückreichendes historisches Unglück spekuliert, eine „Schande und Schmach“, die mit der Entstehung der Sunna selbst verbunden gewesen sei. Die Sunna sind im Altarabischen die Gebräuche, Handlungsweisen und Normen, die die auseinandergesprengten arabischen Stämme zusammenhalten sollen. Der Islam hat sie religiös aufgeladen: die „Sunna“ des Propheten sind nach dem Koran die zweite Quelle des islamischen Rechts. 

    Saleh sieht die Geschichte der arabischen Welt voller gescheiterter Darstellungen. Auch seine eigene Anhängerschaft an den Kommunismus, von dem er sich erst unter dem Eindruck von Lektüren während der Haft löste, sieht er als ein verkürztes, den realen Erfahrungen nicht entsprechendes Denken und als einen Fall dieses Scheiterns. Und heute? „Es scheint, dass wir heute wieder mit einem enorm verletzenden Geschehen konfrontiert sind, welches auch diesmal wieder starke Abwehreffekte mit dem Ziel des Selbstschutzes hervorruft.“ Die Sunna breche einmal wieder auseinander. Die kollektive Identität der sunnitischen Muslime werde nur noch durch äußerst gewaltvolle, die Realitäten ausblendende Ideologie zusammengehalten. Alle über Generationen unterdrückte Ereignisse und Erfahrungen werden in dem Auseinanderbrechen freigesetzt, „sie treten als gestaltlose Bestien, Dämonen und Monstren auf, die ihrerseits von keiner Sunna eingehegt werden.“

    Was bräuchte es, damit das politische Denken in Deutschland und Europa sich liebevoll, zuhörend, menschlich dieser auch durch westliches Einwirken entstandenen Kette von Traumata und Darstellungskrisen in der arabischen Welt zuwendet? Und davon ablässt, durch Rassismus zu ihrer Fortsetzung beizutragen? Saleh beschreibt – ohne jemals zu psychologisieren – die Psychologie des Islamismus als eine ausweglose Situation der Gestaltlosigkeit, „einer nackten, bis ins Äußerste schmerzlichen Existenz“. Er verweist auf Hannah Arendts Überlegungen über das Nachdenken: nur durch den Dialog der Einzelnen mit sich selbst, den kreativen Denkprozess, den Anfang zur Darstellung, kann das Selbst sich disziplinieren und ein Gewissen entwickeln. Im Sufismus hat der Islam dafür Traditionen entwickelt. Am anderen Ende der Skala der Möglichkeiten, die der Islam zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit anbietet steht der „Extremfall“ des „homo islamicus, den die Islamisten in Massenproduktion hervorzubringen streben: ein Roboter, der nicht denkt und dessen Betriebssystem Scharia heißt“, und der Ausdruck nur im Töten findet. Ein weiterer Extremfall sei die Auschwitz-Erfindung des in den Tod gefolterten „Muselmanns“, der im Assad-Gefängnis dahinsiecht und dem in der völligen Selbstaufgabe „nichts Menschliches mehr eigen ist.“ 

    An einer Stelle macht Saleh dann doch den Kulturvergleich: „Das arabische Kulturerbe bietet weniger Darstellungsoptionen als die westliche Moderne mit ihrer Vielsprachigkeit und ihrem Formenreichtum (…).“ Inwieweit der „Westen“ bei der Überwindung der Darstellungskrise Auswege bietet und inwieweit er das Leid und die Darstellungskrise (mit)verantwortet, wurde schon unter den Gefolterten und Gefangenen in Mustafa Khalifas autobiographischem Roman heiß diskutiert. Umso bitterer ist der Verrat, den die aus Syrien und anderen arabischen Ländern nach Deutschland und Europa geflüchteten Muslim:innen und Araber:innen im Westen empfinden müssen. Das eine sind die westlichen Pläne für das Immobilienparadies in Gaza, hilflos-verlogenes Händeringen, Unterstützung und Teilhabe am möglichen Genozid an den Palästinensern und die widerspruchslose Duldung der Invasionen und Bombenangriffe in Syrien. Das andere ist die Bedrohung der Möglichkeiten der Darstellung dieses Schrecklichen selbst. Sie werden durch politische Eingriffe in Wissenschaft, Kunst und Kultur und das Versagen der Öffentlichkeit immer weiter beschnitten. Die „Schande und Schmach“ und das „als unerträglich empfundene Trauma“ am Urgrund der Darstellungskrisen in der arabischen und muslimischen Welt haben eben doch ihre Entsprechungen „bei uns“ – und vielleicht sind sie, wenn wir es mit der Einzigartigkeit des Holocaust ernst meinen – noch weit schändlicher und schmachvoller als alles, was im vorislamischen oder islamischen Arabien je passieren konnte. Assad ist weg – aber das Schreckliche nicht. Ihm ins Auge zu sehen und menschlich zu bleiben, menschlich zu werden, das können wir von Yassin Al-Haj Saleh lernen.