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  • Indiens nicht erklärter Ausnahmezustand

    Arvind Narrain: India’s Undeclared Emergency : Constitutionalism and the Politics of Resistance, Chennai  (Context, an imprint of Westland Publications Private Limited) 2021.

    „Der Doppelstaat“ wird wiederentdeckt. Ernst Fraenkels Studie des NS Staates, 1938 noch in Deutschland verfasst und im amerikanischen Exil überarbeitet, bietet mit der Unterscheidung von Normenstaat und Maßnahmenstaat das analytische Werkzeug, um auch gegenwärtige Prozesse zu begreifen. In der Zeit verweist Heinrich Wefing auf einen Essay von Aziz Huq, der Fraenkels Begriffe auf die USA unter Trump anwendet. Ein polnischer Verfassungsrechtler hatte Wefing bereits auf den „Doppelstaat“ aufmerksam gemacht, um den polnischen Staatsumbau zu verstehen.

    Tatsächlich sind die USA unter Trump nicht Vorreiter in der Wende, die von manchen als autoritär und anderen als faschistisch beschrieben wird. Zwar haben sie eine besondere Strahlkraft und können insofern doch zum Modell der neuen Ordnung werden. Aber sie lenken auch ab, weil die Verhältnisse dort als Auswuchs eines letztlich fremden, spezifisch US-amerikanischen politischen Systems und in Europa so nicht existierender gesellschaftlicher Lager verstanden werden können, und die Affinitäten zu Prozessen hierzulande nicht sogleich sichtbar sind. In vielerlei Hinsicht können die Maßnahmen anderer Regierungen, weniger spektakulär und theatralisch, uns viel deutlicher darauf aufmerksam machen, wie sich der Umbau zu einem Doppelstaat vollzieht.

    Arvind Narrain, indischer Jurist, hat den Begriff des Doppelstaats in seinem bereits 2021 erschienenen Buch „India’s Undeclared Emergency: Constitutionalism and the Politics of Resistance“ aufgegriffen, um die Vorgänge im gegenwärtigen Indien zu beschreiben. Indien unter der hindu-nationalistischen Regierung von Narendra Modi könnte als das erfolgreichste und international am wenigsten problematisierte Beispiel der Etablierung eines Doppelstaats gelten.

    Narrain argumentiert, dass Indiens Verfassung schon immer beide Tendenzen des Doppelstaats in sich vereint habe, dass jedoch unter der seit 2014 regierenden BJP (Bharatiya Janata Party) der Maßnahmenstaat den Normenstaat mehr und mehr überschatte – ermöglicht durch Gesetze wie den UAPA (Unlawful Activities Prevention Act), die die Exekutivvollmachten enorm ausweiten, und die zunehmend der richterlichen Kontrolle enthobenen Exekutivmaßnahmen.

    Narrain definiert das Konzept des Maßnahmenstaates in Anlehnung an Fraenkel als einen Bereich innerhalb des Staates, in dem die Exekutive ohne Einschränkungen und außerhalb oder über gesetzliche Beschränkungen und verfassungsrechtliche Prozesse hinweg agiert. Er sieht den indischen Maßnahmenstaat insbesondere in der Verwendung der (gesetzlichen) Präventivhaft, in den nationalen Sicherheitsgesetzen und den außerordentlichen Exekutivverordnungen. Durch letztere werden gerichtliche Überprüfungen von Exekutivhandeln, aber auch grundlegende Schutzklauseln im Strafrecht zunehmend ausser Kraft gesetzt. Die Polizei führt willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch, ohne dass es eine nennenswerte gerichtliche Kontrolle gibt. Die Exekutive erlässt Verordnungen und Verwaltungsanordnungen, die gesetzliche Schutzvorkehrungen umgehen. Die Zurückhaltung der Justiz, solche Übergriffe zu kontrollieren, führt zu einer Situation, in der Institutionen und Einzelpersonen willkürlicher staatlicher Unterdrückung ausgesetzt sind. Damit ist der Maßnahmenstaat im Sinne Fraenkels etabliert.

    Narrain plädiert für eine Strategie des „verfassungsmäßigen Widerstands“. 2021 war er noch zuversichtlich, dass Bürger:innen, Zivilgesellschaft, Jurist:innen und demokratische Institutionen den Normenstaat verteidigen könnten und dies auch tun würden.

    Nun wird aber zunehmend deutlich, dass der Doppelstaat immer und überall nicht nur den Abbau der Kontrolle der Exekutive, sondern auch Straffreiheit für Vergehen und Verbrechen von zivilgesellschaftlichen Akteuren verspricht. In Indien sind das Lynchmorde an Muslimen und Pogrome. Der Doppelstaat ist immer ein Staat der Mittäter:innen. Und er kann durchaus demokratisch sein. Auch darauf verweist das indische Beispiel. Es gibt für das Modi-Regime keine Notwendigkeit, die Demokratie abzuschaffen, denn der indische Doppelstaat erfreut sich breiter Unterstützung in großen Teilen der Bevölkerung, die sich auch in den Wahlen niederschlägt. Die autoritäre oder faschistische Wende braucht keine diktatorische Staatsform. Genau das macht aber Fraenkels Begriffe auch für die deutsche und europäische Gegenwart so aktuell und wichtig.

  • Koloniale versus antikoloniale Überschreitungen der Grenze zwischen Zivilisten und Kombattanten

    Nicola Perugini: Between Anti-Colonial Resistance and Colonial Genocide: Gaza at the Limits of International Law, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History, November 2025, S. 1–14, doi:10.1080/03086534.2025.2578214.

    Peruginis Artikel zeigt auf einen blinden Fleck im humanitären Völkerrecht hinsichtlich der Anerkennung antikolonialer Kriege. Das Völkerrecht legitimiert in begrenztem Maße antikoloniale Gewalt, in den Zusatzprotokollen von 1977, die das Recht auf bewaffneten Kampf gegen koloniale Besatzung institutionalisiert haben. Perugini zufolge beruht diese Anerkennung aber auf einem statischen, staatszentrierten Regelwerk, in dem die Zivilperson als passives, unparteiisches Opfer imaginiert wird, das Schutz benötigt, und sich nur der Kombattant im antikolonialen Widerstand auch gewaltsam für die Abschaffung der kolonialen Besatzung und Herrschaft einsetzt. Aus der Geschichte wissen wir jedoch, dass antikoloniale Bewegungen das Prinzip der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten im humanitären Völkerrecht immer in Frage gestellt haben, indem sie die Grenze zwischen beiden in einem kollektiven Kampf verwischten. Aus der Perspektive der Kolonisierten fordert Perugini daher eine „Dekolonisierung der Zivilbevölkerung” im Völkerrecht. Für Perugini zwingt uns diese Perspektive, „die Zivilbevölkerung als eine Figur des Widerstands und nicht der Passivität zu betrachten.” (S. 2)

    Im Kontext des anhaltenden Völkermords Israels in Gaza entscheidet die Unterscheidung zwischen Zivilist:innen und Kombattant:innen über Leben und Tod für die meisten Bewohner:innen Gazas, sicherlich für alle Männer und sogar für männliche Kinder. Wie Perugini hervorhebt, nutzt Israel genau diese Unterscheidung, um all diejenigen ungestraft zu töten, die es wagen, die Grenze zwischen Zivilist:innen und Kombattant:innen zu verwischen. Das aktuelle Beispiel eines lokalen ZDF-Auftragnehmers veranschaulicht ebenfalls, wie Israel und deutsche Medien die gezielte Bekämpfung von Journalist:innen rechtfertigen, indem sie deren Zivilistenstatus in Frage stellen.

    Konkret verweist Perugini unter Bezugnahme auf den Völkermord Israels in Gaza auf zwei dialektisch miteinander verflochtene Formen der Transgression, die im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht stehen. Einerseits verschmelzen antikoloniale Kräfte in ihrem antikolonialen Kampf die zivilen und die militärischen Sphären, beispielsweise durch die Infrastruktur von Tunneln, die sowohl kommerziellen als auch militärischen Zwecken dienen. Mit dem Tunnelbau haben palästinensische Widerstandsgruppen die Unterscheidung unterlaufen, um durch „unterirdische Kriegsführung“ (S. 7) „die Asymmetrie des Schlachtfeldes herauszufordern“. Andererseits nutzt der Staat Israel genau diese Nicht-Unterscheidung, um „das kolonisierte Volk als Volk zu vernichten”. Nach Perugini verdeutlichen beide Verstöße gegen das Völkerrecht die Grenzen des Völkerrechts sowie die Beziehung zwischen kolonialem Völkermord und antikolonialem Widerstand in siedlerkolonialen Kontexten.

    Peruginis Aufruf zur Dekolonialisierung des Zivilisten im humanitären Völkerrecht eröffnet uns ein tieferes Verständnis, warum antikolonialer Widerstand die Verwischung zwischen Zivilsten und Kombatanten bedingt, und wie das humanitäre Völkerrecht es Israel ermöglicht, das Recht aufSelbstverteidigung gegen die Kolonisierten zu beanspruchen, indem es den Kolonisierten ihr eigenes Recht auf Selbstverteidigung verweigert. „Diese Umkehrung von Aggression und Verteidigung ist zentral für die koloniale Logik des Völkermords.“ (S. 10)

    https://doi.org/10.1080/03086534.2025.2578214

  • Bundesforschungsministerium ignoriert bei Fördermittelvergabe die Fachgutachten

    Stella Hesch: Trotz Kritik: Forschungsministerium fördert umstrittenes Projekt gegen Antisemitismus in: Correctiv, 30. Oktober 2025.


    Die Recherche von Stella Hesch bei Correctiv liest sich wie politisches Trauerspiel: Das Bundesforschungsministerium hat knapp neun Millionen Euro Fördermittel nach politischem Gutdünken an ein Projekt des Unternehmens MIND von Ahmad Mansour vergeben, ohne dass wissenschaftliche Standards und Vergabekriterien eingehalten wurden. In der Leitungsebene des zuständigen Ministeriums sowie queer durch alle an der Entscheidung im Bundestagsausschuss beteiligten Parteien offenbart diese Entscheidung ein höchst problematisches Wissenschaftsverständnis. Dass die Förderentscheidung trotz negativer Fachgutachten von gleich drei Wissenschftsminister*innen unterschiedlicher Parteien: Bettina Stark-Watzinger (FDP), Cem Özdemir (Grüne) und Dorothee Bär (CSU), mitgetragen wurde, spricht für einen breiten parteiübergreifenden Konsens in der Umgehung von Qualitätsstandards bei der Fördermittelvergabe.


    Obwohl das übereinstimmende Fazit der vom Ministerium beauftragten Experten lautete, dass Mansours Projekt „nicht förderungswürdig“ sei, dies dem Ministerium durch mehrere negative Fachgutachten ausdrücklich mitgeteilt wurde und sowohl die Gutachter*innen als auch die ministeriale Fachebene erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Güte sowie den ethischen Auswirkungen des Projekts geäußert hatten, wurden Mansours Unternehmen die umfangreiche Förderung vom Ministerium zugesprochen.

    Die in der Recherche dokumentierte politische Vergabepraxis ist einem Bundesministerium unwürdig. Sie ignoriert das zur Qualitätssicherung notwendige Peer-Review-Verfahren und verstößt gegen wissenschaftsimmanente Standards der Fördermittelvergabe. Dies untergräbt das Vertrauen in gute und ethische wissenschaftliche Praxis und Vergabeverfahren.

    Zudem erinnert dieses Vorgehen an die Fördermittelaffäre im Sommer 2024, als die damalige Ministerin Bettina Stark-Watzinger prüfen ließ, ob man nicht unliebsamen Wissenschaftler*innen das Funding wegnehmen könne. Auch hier schienen dem Ministerium politische Positionierungen wichtiger zu sein als wissenschaftliche Standards.

    ↗ https://correctiv.org/aktuelles/integration-gesellschaft/2025/10/30/antisemitismus-mansour-foerderprojekt/

  • Ekel und Erotik des neuen faschistischen Körpers

    Dagmar Herzog: Der neue faschistische Körper, mit einem Nachwort von Alberto Toscano, (Wirklichkeit Books) 2025.

    „(I)n einem Kontext, in dem Propaganda von Aufklärung, Dokumentation und seriöser Recherche oft nicht mehr leicht zu unterscheiden sind“, fand die Debatte um die Authentizität von Bildern, die Hunger und Hungertod in Gaza zeigten, im Sommer 2025 ihren Tiefpunkt: Nicht nur, dass der Journalist Tobias Huch den zu dieser Zeit vermehrt zirkulierenden Bildern absprach, Dokument des gezielten Aushungerns der palästinensischen Zivilbevölkerung durch das israelische Militär zu sein, nahm er den Fall des bis auf die Knochen abgemagerten Jungen Mohammed Zakarias al-Mutawaq zum Anlass, den Palästinenser:innen zu unterstellen, aufgrund ihres Sexualverhaltens genetische Erkrankungen zu provozieren und einen niedrigen Intelligenzquotienten zu haben. Unbeeindruckt von den medizinischen Einschätzungen, die trotz der Vorerkrankung des Jungen klare Anzeichen von Hunger erkennen, und gleichgültig gegenüber unzähligen anderen Bildern, die untergewichtige Kinderkörper zeigen, zielte Huch mit seinem X-Post auf die Degradierung der palästinensischen Bevölkerung, indem er einen Zusammenhang von Behinderung und Sexualmoral herstellte.

    Ebenjener Zusammenhang steht im Zentrum des neuen Buchs der Holocaustforscherin und Geschlechterwissenschaftlerin Dagmar Herzog. „Der neue faschistische Körper“ (2025, Wirklichkeit Books) fügt aktuellen Faschismustheorien ein wichtiges Puzzlestück hinzu. Das Augenmerk des – wie sie es nennt – postmodernen Faschismus liegt auf den „verworrenen Verbindungen zwischen Sexual- und Behinderungspolitik“ (35), die intersektionalen Kategorien Gender, Race und Klasse werden um die wichtige Kategorie der Behinderung ergänzt.

    Ausgehend vom Erfolg der AfD geht Herzog im ersten Kapitel darauf ein, inwiefern der anti-migrantische Rassismus dadurch „sexy“ (9) gemacht wird, dass Ekel vor behinderten Körpern geschürt wird. Die „angstgetriebene (…) Abwertung jeglicher Vulnerabilität“ (9), die über die Erotisierung von (körperlicher) Überlegenheit zum Beispiel in AfD Wahlkampfkampagnen vermittelt wird, zeichnet Herzog anhand von fünf Szenen nach, die nicht zufällig auch die Klaviatur der Staatsräson bespielen. Herzog zeigt dabei unter anderem, wie die Abwertung des arabisch-palästinensischen Körpers bzw. der Intelligenz mit einem deutschen Neid auf jüdische Intelligenz einhergeht, dem antisemitische Motive beigemengt sind. Anhand der genauen Lektüre von Aussagen von Journalisten wie Ulf Poschardt oder Mathias Döpfner arbeitet sie heraus, wie mit dieser affektiven Koppelung von Ekel und Neid einerseits jüdische Gelehrsamkeit für (reputations-)ökonomische Zugewinne umworben wird und andererseits der potenziellen Einwanderung von Palästinenser:innen, die durch den Genozid alles verloren haben, affektiv vorgebeugt werden soll.

    In diesem Sinne – so ließe sich sagen – befinden wir uns in einer Phase der Vorkonditionierung, die Herzog im dritten Kapitel in Anlehnung an George Mosse erläutert. Mosse hatte dargelegt, dass die rassistische Sensibilisierung der Deutschen, die sich spätestens mit Antritt der Nationalsozialist:innen als auserwähltes Volk empfanden, bereits in den 1890er Jahren einsetzte – und zwar entlang der „affektiven Naht“ (48) zwischen dem exterminatorischen Hass auf Behinderung und der sexuellen Aufladung ‚rassenhygienischer‘ Fortpflanzung. Ekel und Erotik sind die Bindungskräfte, die in eine ideale Zukunft wirken, weswegen Herzog in Bezug auf den postmodernen Faschismus nicht vom Backlash, sondern „frontlash“ (24) spricht: Der Angriff greift vorweg und reagiert auf eine Entwicklung zum Beispiel der Migration von Palästinenser:innen, die bisher weder begonnen hat, noch unter den aktuellen politischen Bedingungen der Befriedung des „Nahostkonflikts“ wahrscheinlich ist.

    Affekte sind für einen solchen vorweggreifenden Angriff ausgezeichnete Werkzeuge, weswegen Herzog ihre Aktivierung zum stärksten Bindeglied zwischen postmodernem Faschismus und Nationalsozialismus zählt. Ihre Stimulation, und die offene Absage an ihre Repression, verweist unmittelbar darauf, dass wir uns in der Phase der Faschisierung befinden und nicht mehr nur von Autoritarismus sprechen können. Denn die Gefühlsbindung an den Nationalsozialismus setzte auch schon voraus, die Intimsphäre durchdrungen zu haben und „die innersten Geheimnisse des Verlangens“ (41) preiszugeben, schreibt Herzog im zweiten Kapitel. Auch heute wird durch die Fokussierung auf den vorpolitischen Raum, auf die Gefühle und die Lüste, der Faschismus in den Subjekten vorbereitet und unsere „Geisteshaltung“ (47) affektiv vorkonditioniert.

    Es ist eine wichtige Erkenntnis Herzogs, dass auch schon der historische Faschismus nicht auf ein „biologieversessenes Regime“ (42) reduziert werden konnte, sondern von sozialkonstruktivistischen Theorien der Veränderlichkeit und Formbarkeit von Verlangen ausging. Wir sind nie modern gewesen, auch im historischen Faschismus nicht; so ließe sich in den Worten Bruno Latours nach Herzog schlussfolgern. Schon im Nationalsozialismus finden sich Ansätze einer – in der postmodernen Theoriebildung untersuchten – Vorstellung sozial bedingter Konstruktionen von Begehren. Der postmoderne Faschismus ist daher keine Gegenwartsbeschreibung, sondern gewissermaßen ein Rückwärtsschock. Aimé Césaire prägte das Bild des Schocks, der durch die Anwendung kolonialistischer Verfahren in Europa gegen weiße Europäer:innen während des Nationalsozialismus ausgelöst wurde. Wenngleich die Übertragung dieses Bildes auf den hiesigen Gegenstand nicht ohne Risiken möglich ist, scheint mir die Anwendung postmoderner Verfahren aus der Zeit des Nationalsozialismus der Schock unserer Gegenwart zu sein: Die neu-faschistische Ko-Option der für postmoderne Theoriebildung zentralen Anfechtbarkeit unverrückbarer Wahrheiten (6) stellt als Echo der Vergangenheit des Nationalsozialismus einen Schock für postmoderne Theoriebildung dar. Sie muss erkennen, wie ihre Erkenntnisse gegen sie selbst gerichtet werden können.

    Die gute Nachricht der Erkenntnis der Wandelbarkeit unseres Verlangens und der Anfechtbarkeit von Wahrheit ist: Wir können uns – wie Alberto Toscano es im Anschluss an Walter Benjamin in seinem Nachwort zu Herzogs Buch formuliert – für den Faschismus völlig unbrauchbar machen, indem wir unser Verlangen darauf orientieren, Verletzlichkeit anzunehmen und sie nicht durch fitness-asketische Selbstoptimierung zu verdrängen.

  • Antisemitismus-Training an US-amerikanischen Universitäten

    Hannah Feuer: Hundreds of Northwestern students can’t register for class because they won’t watch an antisemitism training video. Here’s what’s in it, in: Forward, 29. September 2025.

    Dass verpflichtende Antidiskriminierungstrainings an Schulen und Universitäten auch dazu genutzt werden können, Propaganda zu verbreiten und unliebsame Positionen zu unterdrücken, stand immer zu erwarten. Universitäten in den USA bedienen sich jetzt dieses Mittels, um Donald Trumps Executive Order „Zusätzliche Maßnahmen zur Antisemitismusbekämpfung” vom 29. Januar 2025 Folge zu leisten. An der renommierten Northwestern University in Chicago wurden jetzt rund 300 Studierende von der Kursanmeldung ausgeschlossen, weil sie sich weigerten, ein verpflichtendes “anti-bias” Video anzusehen, das – verleumderisch und falsch – Antizionismus als Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes definiert. Das Video beschreibt – wieder falsch – ein Groß-Israel als einzige historische Heimat des jüdischen Volkes und setzt – methodisch unhaltbar – willkürliche und nicht überprüfbare „Zitate“ von „anti-Israel Aktivisten“ mit Zitaten des Ku-Klux-Klan-Anführers David Duke gleich.

    https://forward.com/news/772504/northwestern-antisemitism-training-jewish-united-fund

  • Völkerrecht in Zeiten des zunehmenden Autoritarismus

    „Professor Schabas: US, Germany, and Others Could Be Held Liable as Accomplices to Genocide in Gaza” [„Professor Schabas: Die USA, Deutschland und andere Staaten könnten als Komplizen des Völkermords in Gaza haftbar gemacht werden”], interviewt von Selcuk Gultasli, 30. August 2025, European Center for Populism Studies, https://www.populismstudies.org/professor-schabas-us-germany-and-others-could-be-held-liable-as-accomplices-to-genocide-in-gaza/.

    Die Normen des Völkerrechts und Völkerstrafrechts sprechen im Zusammenhang mit Israels militärischem Vorgehen und der Siedlungsgewalt in den besetzten palästinensischen Gebieten, deutlich wie eigentlich nie im Recht, eine klare Sprache. Menschenverachtende Politiken nicht nur in Israel, sondern gerade auch in Deutschland übertönen diese Normen allerdings in einer Weise, die es zunehmend schwieriger macht, mit der Kraft des besseren Arguments zu überzeugen und, seien wir ehrlich, auch nur die erdrückende Faktenlage zu benennen.

    In einem ausführlichen Interview mit dem European Center for Populism Studies (ECPS) gibt Professor William Schabas – einer der weltweit führenden Experten für internationales Strafrecht und Völkermordstudien und Professor an der Middlesex University – eine detaillierte Einschätzung der sich zuspitzenden Krise in Gaza aus der Perspektive des Völkerrechts, der Populismusforschung und der globalen Governance. Als Nachkomme einer Familie von Holocaust-Überlebenden warnt Professor Schabas, dass Gaza ein „Lackmustest“ für die Glaubwürdigkeit der internationalen Justiz und die Autorität globaler Rechtsinstitutionen sei.

    Interviews, in denen diejenigen, die ihr ganzes Leben der Auslegung und Klärung des Rechts gewidmet haben, zu Wort kommen, sind in Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Sie können die relevanten völkerrechtlichen Normen, deren Verhandlung vor verschiedenen Gerichten und ihre Relevanz für die Politiken von Staaten auch nicht rechtlich geschulten Leser*innen nachvollziehbar machen, ohne an Komplexität einzubüßen. Schabas bietet Leser*innen solides Fachwissen an und zeigt juristisch klare Argumentationsketten auf.

    Mit Blick auf den Völkermordsvorwurf und den Vorwurf von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen stellt Schabas klar, dass Gerichts- und Ermittlungsverfahren wie die momentan vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem internationalen Strafgerichtshof (IStGH) anhängigen ganz konkrete Auswirkungen auf die Entscheidungen einzelner nationaler Behörden und Politiker*innen haben und haben müssen. Denn ein Völkermord ist kein vereinzeltes Ereignis, er setzt sich immer aus einer Reihe von Handlungen und Entscheidungen vieler Akteure zusammen, und ihn zu verhindern, liegt in der Verantwortung aller Staaten, die sich mit dem Völkermord-Übereinkommen von 1948 einem „Nie wieder“ verpflichtet haben. Dabei – und das stellt auch Schabas fest – gab es Völkermorde schon lange vor diesem völkerrechtlichen Übereinkommen, vor allem auch als Teil kolonialer Expansion und einer rassistischen Logik. Diese entziehen sich der vereinfachenden historischen Einordnung eines Davor und Danach einer vermeintlich friedens- und menschenrechtsbasierten liberalen Nachkriegsordnung und prägen die gegenwärtige Weltlage nach wie vor.

    Der Fall Südafrika gegen Israel vor dem IGH ist „wohl der schwerwiegendste Fall von Völkermord, der jemals vor dem Gerichtshof verhandelt wurde“. Schabas argumentiert, dass sich die Absicht zum Völkermord sowohl aus dem militärischen Vorgehen Israels als auch aus Aussagen hochrangiger israelischer Beamter, wie beispielsweise den Äußerungen von Verteidigungsminister Yoav Gallant über die Unterbrechung der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom in Gaza, ableiten lasse. „Wir haben mehr als nur ein Verhaltensmuster – wir haben auch Aussagen und klare Hinweise auf eine Politik.“ Unter Bezugnahme auf die gängige Spruchpraxis des IGHs sind dies alles Anhaltspunkte, die bei der endgültigen Beurteilung berücksichtigt werden müssen.

    Laut Schabas machen sich möglicherweise auch Drittstaaten – die USA, Deutschland, Kanada und andere – gemäß Artikel III der Völkermordkonvention wegen der Unterstützung Israels durch militärische und politische Hilfe strafbar. Er warnt: „In dem Maße, in dem sie materielle Hilfe von erheblicher Bedeutung leisten, können sie als Mittäter des Völkermords zur Verantwortung gezogen werden.“

    Jetzt sei ein entscheidender Moment für das ganze weitere Schicksal der internationalen Justiz wie dem IGH und dem IStGH. Die Nichtanwendung einheitlicher Standards im Falle der Zerstörung Gazas berge die Gefahr, dass sich ein „zweigeteiltes System des Völkerrechts“ verfestige und die Menschenrechte weltweit untergraben würden: „Diese Institutionen sind absolut verwundbar und sie sind sich dessen bewusst. Gaza ist ein Test für ihre Glaubwürdigkeit und Autorität.“

    Bei all diesen Punkten nimmt sich Schabas nicht nur die Zeit, die rechtlichen Fragen verständlich zu erläutern, sondern stellt sie auch in den Zusammenhang größerer weltpolitischer und rechtspolitischer Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten und ihren Weltbildern und Wertesystemen. Gerade der IGH, so Schabas, sei in letzter Zeit nach Perioden der grundsätzlichen Einvernehmlichkeit vermehrt Schauplatz solcher Auseinandersetzungen geworden, in denen sich zunehmend die Widersprüchlichkeit und Fragilität nicht nur der internationalen Gerichte, sondern der gesamten normativen und institutionellen Basis der Vereinten Nationen zeige – mit einem Sicherheitsrat, der nicht weiter entfernt von dem Ideal sein könne, eine auf Gleichheit basierende Repräsentanz der gesamten internationalen Gemeinschaft zu sein.

    In einem breiteren Kontext von Debatten über Populismus, Autoritarismus und internationale Rechenschaftspflicht formuliert das Interview einen dringenden Aufruf zum Umdenken in Bezug auf rechtliche, institutionelle und politische Rahmenbedingungen zur Verhinderung von Massengräueltaten. Doppelte Standards, wie sie gegenwärtig mehr denn je in Recht und Politik angelegt werden, sind eben nicht nur unfaire Anwendung des Rechts und ungleiche Verteilung von rechtlicher Verantwortlichkeit und effektiver Strafverfolgung. Doppelte Standards befördern und erzeugen die illegitime Macht der wenigen über die vielen und sind Grundpfeiler eines jeden Autoritarismus, der am Ende alle Personen seiner entmenschlichenden Logik unterwirft.

    Schabas plädiert dafür, dies zu verhindern, solange es noch geht.

    https://www.populismstudies.org/professor-schabas-us-germany-and-others-could-be-held-liable-as-accomplices-to-genocide-in-gaza/

  • „Don’t Woman Life Freedom Us, You Murderers!“

    „Women, Life, Freedom“ against the War. A Statement against Genocidal Israel and the Repressive Islamic Republic, 23. Juni 2025, https://de.crimethinc.com/2025/06/23/women-life-freedom-against-the-war-a-statement-against-genocidal-israel-and-the-repressive-islamic-republic.

    Es ist schon wieder sechs Wochen her: In den frühen Morgenstunden des 13. Juni 2025 begann Israel einen völkerrechtswidrigen Angriff auf Teheran. Der Iran schlug innerhalb weniger Stunden zurück und feuerte Raketen auf Dutzende militärische Einrichtungen in Israel ab. Die Notwendigkeit des Kriegs begründete die israelische Regierung damit, dass der Iran unmittelbar vor der Fertigstellung einer Atombombe stehe – eine unbelegte Behauptung, die Premierminister Benjamin Netanjahu seit 1992 wiederholt. Neun Tage nach Kriegsbeginn traten die USA offiziell auf der Seite Israels in den Krieg ein. Nach Angaben der in den USA ansässigen Menschenrechtsorganisation Human Rights Activists in Iran (HRANA) wurden bei den israelischen Angriffen fast 1.000 Menschen getötet und über 3.500 verletzt. Bei den Angriffen von Iran auf Israel wurden 29 Israelis getötet und 172 verletzt. Nach zwölf Tagen wurde der Krieg mit einer von den USA initiierten Feuerpause vorläufig beendet.

    Wir stellen hier ein Statement des Kollektivs Roja vor, das bereits am 16. Juni auf Farsi erschienen ist und eine Woche später in englischer Übersetzung vom dezentralen Netzwerk CrimethInc. veröffentlicht wurde. Inzwischen liegt es auch in vielen anderen Sprachen vor. Roja ist ein unabhängiges internationalistisches Kollektiv aus Paris bestehend aus kurdischen, afghanischen (Hazara) und iranischen Feminist*innen, das sich 2022 als Reaktion auf die Frau, Leben, Freiheit-Proteste im Iran gegründet hat.

    Das Statement bettet die Kriegsereignisse in den Kontext jüngerer iranischer Geschichte ein, zieht eine kritische Bilanz militärischer Interventionen des „War on Terror“, etwa in Afghanistan und Irak, und insistiert: Es gibt keinen „gerechten“ Krieg oder gerechtfertigte Bombardierungen. Mit analytischer Klarheit positioniert sich Roja gegen die diskursiven Vereinnahmungsversuche von allen Seiten. In der Diskussion um den sogenannten Zwölftagekrieg stehen sich die Unterstützer*innen des vermeintlichen „Präventivschlags“, die das Narrativ der Selbstverteidigung Israels und des „Regime-Changes“ im Iran forcieren, denen gegenüber, die das Islamische Regime zum antiimperialistischen Widerstandskämpfer gegen westliche Großmächte stilisieren. Während monarchistische Gruppen zivile Opfer als hinnehmbaren Kollateralschaden im Kampf gegen das islamische Regime rechtfertigen, nutzt das Regime die Lage gezielt zur Repression politischer Gegner*innen und marginalisierter Gruppen.

    Roja verurteilt den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels und die Einmischung der USA ebenso entschieden wie das patriarchal-repressive Regime der Islamischen Republik: „Genocidal imperialist projects will never liberate us, nor will patriarchal nationalist regimes protect us.“ Das Kollektiv benennt den Krieg Israels, der angeblich nur gegen die iranischen Atomanlagen und Regimefunktionäre gerichtet war, als Aggression gegen die gesamte Bevölkerung Irans und gegen die Grundsätze und Akteur*innen der Frau, Leben, Freiheit-Proteste. Zusätzlich kritisiert es jene, die nicht zwischen Grassroot-Widerstandsbewegungen und dem Handeln einer Staatsmacht differenzieren können und somit zum Beispiel die jahrzehntelange Selbstorganisierung der Arbeiter*innenklasse unsichtbar machen.

    Das Kollektiv relativiert nicht, sondern übt differenzierte Kritik an den Regierungen beider Länder: an der israelischen Regierung, die renommierten Expert*innen und Menschenrechtsorganisationen zufolge gerade einen Genozid in Gaza verübt und seit Jahrzehnten Palästinenser*innen die Selbstbestimmung verweigert – und an der iranischen Regierung, die Oppositionelle, ethnische Minderheiten, Frauen und viele andere seit Jahrzehnten unterdrückt, verfolgt und hinrichtet. Iran, so fordert Roja, dürfe weder durch externe Interventionen in ein zweites Libyen verwandelt werden, noch Schauplatz erneuter Massenhinrichtungen durch das islamische Regime wie im Sommer 1988 werden.

    Indem es sich mit Grassroot-Widerstandsbewegungen „from Kabul to Tehran, from Kurdistan to Palestine, from Ahvaz to Tabriz, from Balochistan to Syria and Lebanon“ solidarisiert, erteilt das Kollektiv eine Absage an alle Legitimierungsversuche staatlicher Kriegsführung und externer Regime-Change-Bestrebungen. Ausschließlich Widerstandsbewegungen von unten können mit politischen Mitteln langfristige Veränderungen erstreiten.

    https://de.crimethinc.com/2025/06/23/women-life-freedom-against-the-war-a-statement-against-genocidal-israel-and-the-repressive-islamic-republic

  • Eine unsichtbare Universität für die Ukraine und den Rest der Welt

    Ostap Sereda, Balázs Trencsényi, Tetiana Zemliakova, Guillaume Lancereau (Hg.): Invisible University for Ukraine. Essays on Democracy at War, Ithaka/London (Cornell University Press) 2024.

    Es ist ein globales Phänomen: Universitäten weltweit sind massiv unter Druck – durch Definanzierung, Unterwerfung unter Marktlogiken, Streichung ganzer Fachbereiche, politische Interventionen und Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit der Lehre, bis hin zur gezielten, physischen Zerstörung von Universitätsgebäuden und Tötung von Wissenschaftler:innen und zum „Scholastizid“, wenn damit ein ganzes Volk getroffen werden soll. Die Invisible University for Ukraine (IUFU) bietet seit 2022 Onlinekurse für ukrainische Studierende an, um mit ihnen die Kriegserfahrung und die genozidale Bedrohung durch die russische Aggression mit innovativen akademischen Mitteln durchzuarbeiten; fast 1000 Studierende haben bisher davon profitiert. Die vor einem knappen Jahr erschienene Essaysammlung „Invisible University for Ukraine. Essays on Democracy at War“ zeigt mit sehr bewegenden, persönlich gehaltenen Beiträgen von Studierenden und Professor:innen, auf höchstem Reflexionsniveau, im ukrainischen Kontext, was man sich auch in jedem anderen Kontext wünscht: eine neue, ehrliche, vorbehaltlose Weise der universitären Wissensgenerierung.

    „The need for uncommon institutional responses to the autocratic pressure on higher education has been a recurrent topic of discussion since the late 2000s”, schreiben Ostap Sereda und Balázs Trencsényi in der Einleitung; das „westliche“ Modell der universitären Bildung habe in Osteuropa schon damals an Glaubwürdigkeit verloren: „The Invisible University was also a response to this crisis of academia, experimenting, under the pressure of an unprecedented situation of mass dislocation of students and scholars, to relink the educational, research, and civic components in unconventional and innovative ways.” Die Invisible University sieht sich nicht als Solitär, sondern in einem zeit- und ortübergreifenden, ebenfalls unsichtbaren Netz verbunden mit anderen und ähnlichen Initiativen im 20. und 21. Jahrhundert, in einer Geschichte, die in der Einleitung kurz und eindrucksvoll nachgezeichnet wird.

    Diese Initiativen haben und hatten immer ein paar Dinge gemeinsam: die transnationale, globale Perspektive, die sich mit globalen und regionalen Perspektiven verbindet und den nationalen Rahmen überwindet; einen radikaldemokratischen Ansatz, der Dialog will und keine Hierarchien; und die Verbindung der akademischen mit der existentiellen Dimension. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist für die Invisible University for Ukraine der drängende Anlass und setzt sie gleichzeitig unter Spannung: Sie arbeitet zwar gegen den Eurozentrismus an und bedient sich postkolonialer Werkzeuge, sieht sich aber in einem Kampf, in dem es neben dem Überleben auch um das Insistieren auf gemeinsamen „europäischen“ Werten geht. Sie muss aushalten, dass ihr ziviles Engagement in Konflikt mit den Überlebenszwängen des Krieges geraten kann, wenn es gegenüber der eigenen Regierung kritisch wird. Und sie hat das (gelöste) Dilemma, wie sie mit russischen Kolleg:innen umgehen soll, wenn die Arbeit an einem nicht-russozentrischen Verständnis des postsowjetischen Raums ihr Hauptziel ist und russische Staatsinstitutionen konsequent boykottiert werden.

    Die einzelnen Beiträge sind sehr persönlich geschrieben, sie zeigen, wie das Akademische und das Existentielle integriert werden können, und vermitteln ganz unterschiedliche, sich ergänzende Lehren aus dem Krieg. Es sind vor allem die sich durch den Krieg dramatisch ändernden Zeitbegriffe – die andere Temporalität –, die sich tiefgreifend auf das Wissen auswirken. Die Beiträge buchstabieren aus, was das konkret heißt: im täglichen Überlebenskampf mit der „sobering absurdity of death“ (Denys Tereshchenko), wo Opfer verlangt werden, die man bringt oder nicht bringt; im Umgang mit der medialen Seite des Kriegs, dem „digital witnessing“ gegenüber einer volatilen Weltöffentlichkeit, und der Ignoranz auch gutgemeinter Reaktionen; aber vor allem im Neujustieren des Verhältnisses von Teilnehmen und Beobachten in der Forschung und Lehre. Nur im ehrlichen Dialog kann mit neuen Ideen eine offene Zukunft denkbar bleiben – „my war is about creating spaces of dialogue” (Balázs Trencsényi). Das Gefühl eines „professional failure“, des „should have known“ (Diána Vonnák), “wading through unmetabolized experience and a cacophony of guesswork, motivated speech, misinformation, and rudimentary analysis”, wird als eine epistemologische Herausforderung fruchtbar gemacht: “We could call it a fog of war in the epistemic sense, but if we flip this around, this fog is ever-present, the stuff of fieldwork, and navigating it is a predicament of any contemporaneous empirical research.”

    Der Sammelband endet mit einer Übersicht all der Kurse, die die IUFU seit 2022 unterrichtet hat, und den sehr anrührenden und auch lustigen Kurzbiographien der Beiträger:innen im Zeichen des Krieges. Tetiana Zemliakova, zum Beispiel, die sich außer für die IUFU nur noch für die Ontologie der Zeit interessiert:  „She always knew she was living through the last days of historical humankind, but she could never guess these would be so stupid.”

    https://d119vjm4apzmdm.cloudfront.net/open-access/pdfs/9781501782886.pdf

  • Faschismus – nicht Ausnahmezustand, sondern Normalität

    Alberto Toscano: Spätfaschismus. Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik, aus dem Englischen übersetzt von Jonathan Rößler, Münster (Unrast Verlag) 2025.

    Dass Alberto Toscano mit seinem jüngst auch auf Deutsch erschienen Buch einen Nerv getroffen hat, konnte man Ende Juni in der Berliner Volksbühne sehen. Dort wurde die Buchvorstellung mit prominenten Gästen (Bafta Sarbor, Lama el Khatib und Quinn Slobodian) im fast ausverkauften, großen Saal begangen. Toscano liefert keine Gegenwartsdiagnose à la „das ist jetzt Faschismus“ und lehnt eine Begriffsdefinition, etwa entlang einer Checkliste von Kernmerkmalen, strikt ab. Als orientierungssuchende Leser:in kann einen diese Haltung durchaus frustrieren. Aber man wird fürs Weiterlesen belohnt: vor allem mit einem Denkangebot, den Faschismus nicht als spektakulären Ausnahmezustand, als das radikal Andere von Freiheit und Demokratie zu verstehen, sondern als Potential und Prozess, der gerade auch innerhalb liberaler Demokratien gedeiht und darin von unterschiedlich positionierten Gruppen – entlang von Rasse, Geschlecht und Sexualität – sehr unterschiedlich erfahren wird.

    Das Buch ist in sieben Kapitel untergliedert, die zwar aufeinander aufbauen und sich aufeinander beziehen, aber je nach Interessenlage auch sehr gut einzeln gelesen werden können. Alle Kapitel haben gemeinsam, dass Toscano die ihn inspirierenden Autor:innen ausführlich zu Wort kommen lässt und sie in oft überraschender Weise aufeinander bezieht und miteinander in Verbindung setzt. Ich will hier kurz vor allem zwei Kapitel vorstellen, die ich für besonders wichtig halte: nämlich Kapitel 2: „Racial Fascism“ und Kapitel 3: „Fascist Freedom“.

    Mit Rückgriff auf antikoloniale Denker:innen und Scholars/Aktivist:innen der amerikanischen Black Radical Tradition der 1970er Jahre stellt Toscano in „Racial Fascism“ die gängige historische Einordnung des Faschismus auf den Kopf. Er argumentiert, anknüpfend an Aimé Césaire, W.E.B. DuBois und andere, dass die Brutalität kolonialer Herrschaft und Ausbeutung und die mit Gewalt unterlegten und Gewalt generierenden kapitalistischen Spaltungen der US-amerikanischen Reconstruction als frühe Faschismen zu verstehen seien. Diese hätten die späteren, heute als „historischer Faschismus“ geltenden Regime in Italien, Deutschland, Kroatien etc. der Zwischenkriegszeit vorbereitet und mitgeprägt. In einem zweiten Schritt greift Toscano die Erkenntnis auf, dass Faschismus keinesfalls mit dem „historischen Faschismus“ und seinen Kapitulationen in den 1940er Jahren zu Ende ging – zumindest nicht für diejenigen, die auch in Demokratien brutaler Entrechtung und Gewalt ausgesetzt waren und sind. Er zitiert hier unter anderem aus den Gefängnisschriften von Angela Davies und George Jackson und stellt fest:

    “Jackson and Davis are profoundly aware of the disanalogies between present forms of domination and historical fascism, but they both assert the epistemologically privileged vantage point provided by the view from within a carceral-judicial system that could fairly be described as a racial state of terror. In distinct ways, they can be seen to relay and recode that foundational gesture of anti-racist and Black radical anti-fascism crystallised in Césaire’s Discourse on Colonialism. As the Martinican poet and politician tells it: ‘And then one fine day the bourgeoisie is awakened by a terrific boomerang effect: the gestapos are busy, the prisons fill up, the torturers standing around the racks invent, refine, discuss.’” (Toscano 2023, 32)

    Faschismus und faschisierende Prozesse seien hartnäckig und dennoch oft unsichtbar für diejenigen, die das Privileg haben, nicht direkter Gewalt und Terror ausgesetzt zu sein.

    In dem Kapitel zu „Fascist Freedom“ geht es Toscano um die Klärung des Verhältnisses von Faschismus und Neoliberalismus, das anders verstanden werden müsse. Ich finde dieses Kapitel vor allem deshalb wichtig, weil Faschismus und Neoliberalismus heute als politische Kampfbegriffe eine frustrierende Unklarheit aufweisen, trotzdem ungebrochen relevant erscheinen und derzeit in Gegenwartsdiagnosen eher konkurrieren als zusammengedacht werden. Nach dem Motto: ist das jetzt (noch) Neoliberalismus oder (schon) Faschismus? Für Toscano ist das die falsche Frage. Er zeigt auf, dass die herkömmliche Vorstellung, dass der Neoliberalismus grundsätzlich staatskritisch ist, während der Faschismus jede Form von Freiheit zugunsten der Staatsmacht abschafft, weder theoretisch noch historisch zutrifft. Er zitiert aus den Schriften von Mussolini, Reinhard Höhn, Ludwig von Mises und anderen, um den Nachweis zu führen, dass der Neoliberalismus durchaus für den Staat ist, aber für eine ganz bestimmte Art von Staat, nämlich den, der die Marktkräfte freisetzt und Eigentum verteidigt. Der Faschismus wiederum ist durchaus für Freiheiten, aber nur für ganz bestimmte Freiheiten von privilegierten Gruppen. Auch im Dritten Reich wurden den Anhänger:innen und Ausführenden des Regimes erhebliche Freiheiten zugestanden. Nach Toscano ist es ein Fehler, die „spontaneities and enjoyments that fascism offers to its managers, militants or minions” (Toscano 2023, 61) zu übersehen und nicht erst zu nehmen.

    Wer bis zum Ende weiterliest, wird im kurzen Schlusskapitel dann doch mit zarten definitorischen Ansätzen belohnt. Toscano macht „four interlocking dimensions of the history and experience of fascism” (Toscano 2023, 156) aus, für die er seine Leserschaft sensibilisieren will. Diese sind in aller Kürze: 1) dass es Faschismus schon vor dem „historischen Faschismus“ gab und dass er diesen überlebt hat; 2) dass Faschismus keinesfalls von allen gleich erlebt wird; 3) dass Faschismus sich als ein Modus präventiver Gegengewalt verstehen lässt, mit der auf epochale Paniken (etwa die Panik des „Großen Austauschs“) reagiert wird; und 4) dass Faschismus von seinen Anhänger:innen und Ausführenden nicht nur Unterwerfung fordert, sondern ihnen auch bestimmte Formen von Freiheit bietet – etwa die Freiheit, Gewalt auszuüben und dies zu genießen.

    ↗ www.unrast-verlag.de/produkt/spaetfaschismus/

  • Die Rache der serbischen Regierung an Studierenden und Professor:innen

    Adriana Zaharijević und Jana Krstić: How Did a Fight Against Corruption Become a Struggle Over Education? — Chronology of Pressure, Balkan Talks, 23. Mai 2025, https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/

    In Westeuropa weitgehend unbeachtet, spitzt sich der Konflikt zwischen der Regierung und den Universitäten, Studierenden, Professor:innen in Serbien immer dramatischer zu. Seit Ende letzten Jahres führt die Zivilgesellschaft in Serbien Massenproteste vor allem wegen der allgegenwärtigen Korruption und dem Kollaps der rechtsstaatlichen Institutionen auf. Wie die EU mit ihrem „Lithium-Pakt“ und dem Waffenhandel in diese Vorgänge in Serbien verwickelt ist, hat Snežana Stanković auf dieser Seite bereits in ihrem Pick am 3. Februar dargestellt. Die Proteste gingen vor allem von Studierenden aus. Fast alle öffentlichen Fakultäten des Landes haben sich im Dezember 2024 hinter die Forderungen der Studierenden gestellt, im Gefühl, dass es um den Bestand der Wissenschaften und des Bildungssystems selbst geht. Lehrkräfte haben sich landesweit organisiert und vernetzt.

    Seit März schlägt die Regierung unbarmherzig zurück: Das Bildungsministerium, „Racheministerium“ genannt, verweigert Lehrern und Universitätsprofessoren einfach den größten Teil ihres Gehalts. Die friedlichen Proteste werden von Agents provocateurs gekapert, um den Ruf der Demonstrant:innen zu beschädigen; die Regierung schürt Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Universitätsprofessor:innen sollen jetzt 35 Wochenstunden unterrichten, was Forschung unmöglich macht. Die Uniangestellten wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, viele stehen vor der Entlassung, das Akkreditierungssystem droht zusammenzubrechen. Seit dem 8. Mai plant die Regierung ein neues Gesetz zur Hochschulbildung, das die Freiheit von Forschung und Lehre voraussichtlich drastisch einschränken wird.

    Die serbischen Kolleg:innen appellieren an die internationale Gemeinschaft, die Unterdrückungsmaßnahmen in Serbien nicht zu ignorieren, sondern mit den Studierenden und Professor:innen und ihren Forderungen nach Transparenz, Verantwortlichkeit und akademischer Unabhängigkeit solidarisch zu sein.

    https://balkantalks.org/chronicle-of-serbias-student-and-academic-uprising-2024-2025/