Arvind Narrain: India’s Undeclared Emergency : Constitutionalism and the Politics of Resistance, Chennai (Context, an imprint of Westland Publications Private Limited) 2021.
„Der Doppelstaat“ wird wiederentdeckt. Ernst Fraenkels Studie des NS Staates, 1938 noch in Deutschland verfasst und im amerikanischen Exil überarbeitet, bietet mit der Unterscheidung von Normenstaat und Maßnahmenstaat das analytische Werkzeug, um auch gegenwärtige Prozesse zu begreifen. In der Zeit verweist Heinrich Wefing auf einen Essay von Aziz Huq, der Fraenkels Begriffe auf die USA unter Trump anwendet. Ein polnischer Verfassungsrechtler hatte Wefing bereits auf den „Doppelstaat“ aufmerksam gemacht, um den polnischen Staatsumbau zu verstehen.
Tatsächlich sind die USA unter Trump nicht Vorreiter in der Wende, die von manchen als autoritär und anderen als faschistisch beschrieben wird. Zwar haben sie eine besondere Strahlkraft und können insofern doch zum Modell der neuen Ordnung werden. Aber sie lenken auch ab, weil die Verhältnisse dort als Auswuchs eines letztlich fremden, spezifisch US-amerikanischen politischen Systems und in Europa so nicht existierender gesellschaftlicher Lager verstanden werden können, und die Affinitäten zu Prozessen hierzulande nicht sogleich sichtbar sind. In vielerlei Hinsicht können die Maßnahmen anderer Regierungen, weniger spektakulär und theatralisch, uns viel deutlicher darauf aufmerksam machen, wie sich der Umbau zu einem Doppelstaat vollzieht.
Arvind Narrain, indischer Jurist, hat den Begriff des Doppelstaats in seinem bereits 2021 erschienenen Buch „India’s Undeclared Emergency: Constitutionalism and the Politics of Resistance“ aufgegriffen, um die Vorgänge im gegenwärtigen Indien zu beschreiben. Indien unter der hindu-nationalistischen Regierung von Narendra Modi könnte als das erfolgreichste und international am wenigsten problematisierte Beispiel der Etablierung eines Doppelstaats gelten.
Narrain argumentiert, dass Indiens Verfassung schon immer beide Tendenzen des Doppelstaats in sich vereint habe, dass jedoch unter der seit 2014 regierenden BJP (Bharatiya Janata Party) der Maßnahmenstaat den Normenstaat mehr und mehr überschatte – ermöglicht durch Gesetze wie den UAPA (Unlawful Activities Prevention Act), die die Exekutivvollmachten enorm ausweiten, und die zunehmend der richterlichen Kontrolle enthobenen Exekutivmaßnahmen.
Narrain definiert das Konzept des Maßnahmenstaates in Anlehnung an Fraenkel als einen Bereich innerhalb des Staates, in dem die Exekutive ohne Einschränkungen und außerhalb oder über gesetzliche Beschränkungen und verfassungsrechtliche Prozesse hinweg agiert. Er sieht den indischen Maßnahmenstaat insbesondere in der Verwendung der (gesetzlichen) Präventivhaft, in den nationalen Sicherheitsgesetzen und den außerordentlichen Exekutivverordnungen. Durch letztere werden gerichtliche Überprüfungen von Exekutivhandeln, aber auch grundlegende Schutzklauseln im Strafrecht zunehmend ausser Kraft gesetzt. Die Polizei führt willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen durch, ohne dass es eine nennenswerte gerichtliche Kontrolle gibt. Die Exekutive erlässt Verordnungen und Verwaltungsanordnungen, die gesetzliche Schutzvorkehrungen umgehen. Die Zurückhaltung der Justiz, solche Übergriffe zu kontrollieren, führt zu einer Situation, in der Institutionen und Einzelpersonen willkürlicher staatlicher Unterdrückung ausgesetzt sind. Damit ist der Maßnahmenstaat im Sinne Fraenkels etabliert.
Narrain plädiert für eine Strategie des „verfassungsmäßigen Widerstands“. 2021 war er noch zuversichtlich, dass Bürger:innen, Zivilgesellschaft, Jurist:innen und demokratische Institutionen den Normenstaat verteidigen könnten und dies auch tun würden.
Nun wird aber zunehmend deutlich, dass der Doppelstaat immer und überall nicht nur den Abbau der Kontrolle der Exekutive, sondern auch Straffreiheit für Vergehen und Verbrechen von zivilgesellschaftlichen Akteuren verspricht. In Indien sind das Lynchmorde an Muslimen und Pogrome. Der Doppelstaat ist immer ein Staat der Mittäter:innen. Und er kann durchaus demokratisch sein. Auch darauf verweist das indische Beispiel. Es gibt für das Modi-Regime keine Notwendigkeit, die Demokratie abzuschaffen, denn der indische Doppelstaat erfreut sich breiter Unterstützung in großen Teilen der Bevölkerung, die sich auch in den Wahlen niederschlägt. Die autoritäre oder faschistische Wende braucht keine diktatorische Staatsform. Genau das macht aber Fraenkels Begriffe auch für die deutsche und europäische Gegenwart so aktuell und wichtig.